12 von 12 im September
Es ist der 12. September 2025, ein sonniger Spätsommertag. Der Sommer in Wesel verabschiedet sich charmant. Ich liebe das monatliche 12-von-12-Format von Judith Peters, weil es zeigt: Das wahre Leben verbirgt sich in den kleinen Augenblicken. Im Sonnenlicht, in Herbstblüten, in Hundenasen und in unzähligen Geschichten, in Dankbarkeit und in Kunstwerken, von denen ich niemals dachte, dass ich sie mögen würde.

Sonnenaufgang über dem Bahndamm in Wesel
Der Morgen beginnt mit goldenem Licht über den Gleisen von Wesel. Wie oft hatte mir Stephan vor vier Jahren solche Bilder am Morgen geschickt! Er war damals schon mindestens fünf Stunden auf den Beinen, wenn in meinem kleinen argentinischen Mar de Ajó der Wecker klingelte. Jetzt sehe ich die Sonnenaufgänge selbst. Ich finde den heutigen besonders schön. Aber vielleicht liegt das auch nur an der großen Tasse Kaffee in meiner Hand. Oder an dem Gedanken, dass dies einer der letzten Sonnenaufgänge dieses Sommers in Deutschland sein wird. Ich finde, er schenkt ein schönes Finale.

Und das tut auch die Blütenpracht, die uns seit Wochen vor einem älteren Reihenhaus in der Nachbarschaft zum Staunen bringt. Manche Menschen haben einfach ein Händchen dafür, etwas Wunderschönes mal eben so an eine Hauptstraße inmitten einer Kleinstadt-Wohngegend zu zaubern. Kleine Perlen, große Werte.

Hunde- und Katzenbar
Nach vier ausgiebig gestreichelten Hunden (einer sehr alten Labradorlady, die ihr Fell wechselte wie Flokati-Wölkchen, einem gerade einmal drei Monate alten Boxer-Shar-Pei-Mix mit großer Schnauze und kleinen tapsigen Beinchen und zwei Malteser-Wirbelwinden) kommen wir Mittags im Café Extrablatt an. Unserer Kreativ-Kantine, in der schon so manche verrückte Idee geboren wurde. Übrigens auch dieses Web-Projekt hier. Das Extrablatt serviert günstige Mittagsmenüs für uns und eine „All-you-can-drink“-Flatrate für Vierbeiner. Wie süß und sinnvoll ist das denn? Hund oder Katze müsste man sein.

Adventserinnerungen auf dem Marktplatz von Wesel
Er hat schon was Majestätisches, der Willi-Brordi-Dom in Wesel. Immer, wenn ich am Marktplatz vorbeigehe, kommen Erinnerungen. Heute: Dezember 2022. In der Mitte des Marktplatzes, dort wo jetzt gerade alles frei ist, stand bereits die Weihnachtstanne. Weihnachts-Kunsttanne, besser gesagt. Naja, vielleicht war es auch eher so eine Weihnachtspyramide. Auf jeden Fall war vielleicht der Weihnachtsbaum Fake, dafür mein Hochzeitskleid ganz echt. Im Vom-Winde-verweht-Stil mit weit ausladendem Rock, Korsage und Puffärmeln. Ja, es war kühl, aber mir war trotzdem heiß. Und als ich so im Kleid auf dem schon dunklen Marktplatz stand, kam ein Mann auf mich zu. Nicht mehr ganz nüchtern vielleicht, aber sympathisch: „Sag mal, du bist doch ein Weihnachtsengel!“ Und bat dann mit großen, fast Kinderaugen, um ein Foto. Ich hab ja gesagt. Und Stephan auch. Das hatten wir an dem Tag ja schon geübt.

Gedenkstein für Konrad Heresbach
„Denn es gilt Irrtümer, nicht Menschen auszurotten.“ Was für ein Wort von Konrad Heresbach, der hier in Wesel gelebt hatte! Theologe, Philologe, Pädagoge, Jurist, Autor, Übersetzer. Humanist. Und, was macht so ein Mann, den man wohl wirklich als weise bezeichnen kann? Er setzt sich für das Bildungswesen und für Toleranz in der Kirchenpolitik ein. Das ist gelebte Nächstenliebe und ein ganz klarer Fokus auf Sinn und Werte. Und ziviler Ungehorsam gegen das „Halt du sie dumm, ich halt sie arm“! Der Mann hat schon vor einem halben Jahrtausend echt verstanden, worum es geht.

Ein Blick voller Dankbarkeit: das Marienhospital in Wesel
Das Marienhospital in Wesel. Hier kämpften sie um mein Leben. Vor fast genau einem Jahr – am 10. September 2024 – erhielt ich den Anruf aus dem Mammografie-Zentrum. Da hatte die Tumorkonferenz schon stattgefunden. Rund zwanzig Menschen, die mit all ihrem Wissen und ihrer Erfahrung gemeinsam auf meinen Befund schauten und ihr Bestes gaben, um mein Leben zu retten. Meines! Weil es für sie einen Wert hatte. Das geht mir noch immer nah. Und wann immer wir am Krankenhaus vorbeigehen, überkommt mich ein warmes Gefühl von Dankbarkeit. Dann stupse ich Stephan an: „Guck mal, hier sind gerade Engel am Werk.“ Und Stephan nickt und lächelt.

Trauer Liebe und Ersatzkinder – meine Arbeit mit Sinn
Mein Schreibtisch. Ich liebe es, mit zwei Bildschirmen zu arbeiten. Links: Das Forum des Online-Kurses Wie man mit Trauer, Verlust und Veränderung umgeht – das Programm von NICABM mit Dr. Tara Brach. Ich freue mich schon so sehr darauf, denn die US-Amerikanerin macht auf mich einen ganz feinen, sympathischen Eindruck. Wie eine Frau, die tiefer blickt. Die im Leben an sich einen Sinn erkennt. Liebe und Spiritualität, darum geht es ihr, das sagt sie in ihrer Einführung. Und damit spricht sie mir so aus dem Herzen. Und rechts arbeite ich an meiner Homepage ersatzkinder.de. Was das mit Trauer zu tun hat, mit Liebe und mit Spiritualiät? Alles, meine ich: Hier geht es um ein Leben im Schmerz, mit Schmerz. Und wenn wir es schaffen, nicht länger gegen den Schmerz anzukämpfen und ihn zu verwandeln, dann werden daraus Liebe und Transzendenz. Davon bin ich überzeugt. Ich bin auf dem Weg.

Gold und die Alchemie der Transformation
In der Alchemie von C. G. Jung haben die Farbe rot-gelb und die Transzendenz eine starke Verbindung. Es sind die Farben des Feuers der Transformation. Der Alchemie, in der aus Stroh Gold entstehen kann. Wenn wir es zulassen. Am Abend des 12. September 2025 gehen Stephan und ich noch in eine Kunstausstellung. Im Wasserturm von Wesel geht es schon längst nicht mehr um die Versorgung der Menschen mit Wasser. Dafür geht es um Kultur. Um Kunst, Bildung und Literatur, Kreativität und Begegnung. Werte! Lebenswichtig wie Wasser? Nicht ganz. Und doch fühlt es sich schon ein wenig so an, als würde man austrocknen, wenn die Herzensbildung fehlt. Und das tut sie dieser Tage hier in Deutschland oft, habe ich den Eindruck. So vieles ergibt keinen Sinn. Wir tanken auf bei einer Vernissage.

Vernissage im Wasserturm Wesel
Altes Gemäuer in Wesel trifft Kunst inmitten von Stahl, Licht und einem Raum, der Wirkung zeigt, gerade weil er so gar nicht für eine Kunstausstellung ausgelegt ist. Alles ist unperfekt. Und beeindruckt mich gerade darum um so mehr. Mensch sein. Um nichts anderes geht es. Wie schrieb heute eine Teilnehmerin des Trauerkurses: Das gibt ihrem Leben Sinn und Wert: die ganze chaotische Göttlichkeit unseres Menschseins kennenzulernen. Ich liebe das.

Kunst auf eingefärbten Bücherseiten
Als ich auf einem Ehrenamtlichen-Treffen im Turm in Wesel hörte, dass Bücher eingefärbt werden sollten, um daraus Kunstwerke zu schaffen, war ich empört. Das ist Literatur! Das sind doch Werte! Heute sehe ich das Werk von Bärbel Krumme. Und ja … ich nehme es zurück. Ich find’s irgendwie schon sehr cool.

Kreatives Chaos und geniale Ideen
Uwe trägt enge Jeans und teure Sneaker. Er hört uns mit offenem Blick zu und man sieht, während wir sprechen, gehen ihm schon tausend Ideen durch den Kopf, was man daraus wieder sinnvolles machen könnte. Uwe ist verantwortlicher Organisator für das Projekt Dritter Ort Wesel. Zwischen Farbtöpfen, Veranstaltungsplänen, Gläsern und einer Ansammlung von Materialien auf Uwes Schreibtisch, bei deren Anblick jeder Kreativ-Laden vor Neid erblassen würde, planen wir das Vorgehen bei der nächsten Lesung im Turm. „Wesel liest“ findet nächste Woche statt. Auch Stephan wird aus dem Gilgamesch Epos vorlesen. Ich denke, ich werde mir dann so einen kuscheligen Leseknochen schnappen und zur Stimme meines Mannes ein bisschen träumen.

Open Air statt Kickboxen
Wir haben uns bei Uwe verquatscht. Über Argentinien, die neuen Dekrete, Einreisebestimmungen, Milei, dann die Bundeswehr, freiwillige soziale Jahre, Abiturienten, rechtsradikale Entwicklungen, Tontechnik, gesellschaftliche Werte und ihr Wandel, Altenpflege, Tätowierungen und Plastikhocker zum Ausklappen. Damit fiel das Training ins Wasser und wir mitten hinein in ein Konzert auf dem Berliner-Tor-Platz. Dort, wo die Fußgängerzone in Wesel beginnt. Direkt hinein in Lachen, Musik, Lichter und in einen Sommerabend, der ganz genauso schön endet, wie der Tag begonnen hat.
12 Bilder – ein Tag
Es ist nichts außergewöhnliches geschehen, und doch war es ein ganz außergewöhnlicher Tag. So viel Leben! So viele kleine Dinge, die alles so wertvoll machen und strahlen lassen. Ich sage jedem Hundebesitzer auf der Straße, dass ich ja überzeugt davon bin, dass der Sinn des Lebens darin besteht, einen Hund zu streicheln. Das meine ich nur zum Teil wörtlich. Leben, das sind die kleinen Perlen: Sonne, Blumen, Hunde, Begegnungen, Liebe, Kultur, Kunst, Farben, Klänge. Große Werte, auf die wir viel zu wenig geben, bis sie fehlen. Ich habe es erlebt. Und ich bin so dankbar für Tage wie diesen heutigen. 12 Bilder – und Seelennahrung für den nächsten Monat. Mindestens.

Hallo Frances, hallo Stephan,
jetzt habe euren 12 von 12 doch noch gelesen, was sich echt gelohnt hat.
Gestern war ich beim Thema: Ersatzkinder (ich dachte erst an etwas anderes: Hunde, Tiere, Puppen, Passionen…) war ich zu nächst scharf abgebogen, auf deine Ersatzkinder-Seite. Als „Betroffene“ bin ich auf deiner Seite und in mein Leben abgetaucht. Danke für deinen Beitrag. Definitiv braucht diese Thema mehr Aufmerksamkeit und Resonanz und ich werde dem Raum geben.
Herzliche Grüße Silke
Liebe Silke, vielen herzlichen Dank für diesen mutmachenden Kommentar. Ich wünsche dir alles Liebe. Frances
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