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Was bleibt, wenn eine Diagnose alles zerbricht? Über Krebs, Sinnsuche im Chaos und das Feilschen mit Gott um einen Sonnenaufgang
„Also du siehst das jetzt nicht, meine Wohnung ist ein Chaos. Aber ich bin unglaublich glücklich, hier gerade diese Botschaft rüberbringen zu können: Schaut nach Sinn. Schaut nicht nach dem, was euch von anderen an Erwartungen auferlegt wird.“
Frances Dahlenburg Im Podcast „Psycho!Logisch“ #041
Wenn der Krebs das Selbstbild zerbricht
Ich hätte nicht gedacht, dass ich das Leben mal so sehen würde, geschweige das öffentlich äußern. Denn bevor ich an Krebs erkrankte, da war ich recht gut darin, zu funktionieren. Und ganz hervorragend, wenn es darum ging, mich für den perfekten Anschein zu verbiegen. Wie ich meinte in den Augen der anderen zu erscheinen, hatte enormen Einfluss auf mein Selbstbild. Und das wiederum orientierte sich an allgemeinen Normen: stark, unverwüstlich, ordentlich, hoffnungsvoll, überlegt, edel, hilfreich, gut. Und darum besorgt, im Rahmen meiner Möglichkeiten auch noch weitestgehend attraktiv zu sein.
„Gut, dass Sie gekommen sind“, hatte der Radiologe leise gesagt, während er auf das Mammogramm schaute. „Wir machen eine Biopsie“. „Aber die Brust bleibt dran!“, antwortete ich, wie aus der Pistole geschossen. Als hätte ich noch alles im Griff gehabt.
Die Diagnose Krebs stellt früher oder später fast immer auch das Selbstbild in Frage. Der Körper ist fragil, richtet sich gegen sich selbst, die Vorstellung von Sicherheit, Kontrolle und Leistungsfähigkeit werden jäh in Frage gestellt, die eigene Rolle im Leben trägt nicht mehr. Von einem Moment weicht Autonomie der Abhängkeit, lebenswichtige Entscheidungen müssen in die Hände anderer gelegt werden. Angesichts einer drohenden Endlichkeit verlieren ursprüngliche Konzepte von Kontrolle und Selbstwirksamkeit ihre Tragfähigkeit.
Die Psyche hält fest, so lange es geht
In der Zeit vor der Operation kann man noch handeln, mitwirken: Informationen suchen, Ärzte konsultieren, Termine wahrnehmen, den Alltag organisieren. Das soziale Umfeld ist noch unverändert. Zusammen mit der Hoffnung, dass durch die Operation eine schnelle Besserung eintritt, wirkt all dies wie ein psychologischer Puffer, der die Seele schützt.
Ist man aus der Narkose aufgewacht, zeigt sich eine andere Wirklichkeit: Die Wunde schmerzt, Schläuche und Drainagen stören, und lassen Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen. Auf einmal zwingt die freie Zeit dazu, über all das nachzudenken, was vorher noch erfolgreich ausgeblendet wurde: Was wird die Biopsie ergeben? Hat der Krebs schon gestreut? Welche Behandlungen werden folgen? Und das, was vorher noch ein Gedankenexperiment war, ist auf einmal unwiderlegbare Realität: Der Körper ist verändert und wird das von nun an immer sein.
Angst. Die Zwillingsschwester der Diagnose Krebs
Ein Gefühl stellt sich ein, dass so gar nicht zu stark, hoffnungsvoll und unverwüstlich passt, Ideale von edel, hilfreich und gut in den Schatten stellt und in dessen Gegenwart Vorstellungen von überlegt, attraktiv oder gar ordentlich ihre Bedeutung vollends verlieren: Es ist das Gefühl, das kollektiv mit der Krankheit Krebs verbunden wird. Hier wird es individuell und ganz konkret: Angst.
Tagebuch, Anfang Oktober 2024: „… Das ist kein stolzes Gefühl. Das ist kein siegreiches Gefühl. Zu gehen ist weder stolz noch würdevoll. Das ist ein zerbrechliches, trauriges, einsames Flehen. Um etwas, wofür es früher oder später doch zu spät sein wird. Es wird immer diesen letzten Sonnenaufgang geben. Es wird immer diese letzte Umarmung geben. Diesen letzten Gruß, der auf den Vorletzten folgt. Ein klein wenig Zeit. Es ist nichts Würdevolles daran, mit angezogenen Beinen in das Kissen zu heulen. Und möglicherweise ist es auch nichts Sinnvolles daran. Möglicherweise doch? Es ist etwas, das ich nicht weiß. Es hat mich einfach überflutet. Diese Lust auf Leben. Diese Dankbarkeit für das Leben. Diese Angst um das Leben. Diese Angst um die, die nicht zurücklassen werden. Ein paar Tage zuvor war es noch Trotz, auf den ich mich stützte. Es gibt so viele, die mich gerne schwach sehen. Heute Nacht war ich es...“
Verhandeln als Versuch, die Kontrolle über Krebs zu bewahren
Elisabeth Kübler Ross beschrieb 1969 in „On Death and Dying“ das Verhandeln um das Schicksal als ein Stadium, das Sterbende unweigerlich durchlaufen müssen, bis sie es akzeptieren können. Ross‘ Arbeit ist inzwischen kritisiert und weiterentwickelt worden. Irivin Yalom sieht darin einen Verteidigungsmechanismus der Psyche, die immer noch eine Illusion von Kontrolle aufrechterhalten möchte.
„… Elisabeth Kübler-Ross sagt, bei Menschen, die sterben werden, kommt zunächst die Ablehnung, dann das Verhandeln. Dann die Wut, dann die Trauer. Und schließlich eine Akzeptanz, die Frieden weicht. Wir alle werden sterben. Früher oder später. Wir alle lehnen das ab. Ich schwanke zwischen Wut und Trauer, dachte ich. Nein, das ist nicht wahr. Ich bin noch weit davon entfernt. Denn die Intensität, mit der ich heute Nacht verhandelt habe, zeigt mir, dass selbst das auch nur eine Illusion ist. Nein, im Moment verhandele ich. Und zwar mit jeder Faser meines Körpers. Mit jedem noch so kleinen Argument, das ich in die Waagschale werfen könnte ...“

Gedankenspiele ohne Wirkung
Ob dieses Verhandeln im Angesicht des Unabänderlichen sinnvoll ist oder das Leid nur verlängert, darüber habe ich verschiedene Ansichten kennengelernt. Das war mir in jenem Moment allerdings herzlich egal. Ich habe es gemacht. Obwohl ich wusste, dass es rational nichts ändern würde:
„… Ja, ich verhandele. Ich verhandele mit Gott. Vor ein paar Tagen sagte ich, ich werde noch nicht sterben. Gott ruft mich noch nicht ab. Gestern früh in der Visite wechselten Ärzte und Krankenschwester Blicke, als ich nach dem Zustand der Lymphknoten fragte. Man könne mir den Befund noch nicht geben. Er müsste noch einmal geprüft werden. Metastasen? Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, ganz egal, ob ich jetzt noch eine Woche warte, oder zwei Wochen, oder drei Wochen, oder das Ergebnis morgen erfahre, die Situation ist bereits so, wie sie ist. Es ist ein bisschen wie Schrödingers Katze ...“
Endgegner Krebs: Jeder flüchtet in seine eigene Welt
Leben oder nicht leben. Dieses Schweben zehrt besonders an den Nerven. Psychologische Studien belegen: Das Abwarten einer Biopsie ist eine Phase, in denen an Krebs Erkrankte mit besonders hoher Angst und Ungewissheit umgehen müssen.
Ich war froh, allein zu sein, zog mich von den Menschen zurück. Flüchtete nach Innen. Denn auch sie hatten sich verändert: Die Krankheit machte sie wütend. Misstrauisch. Ich lernte: Auch die Nichtbetroffenen werden angesichts der Diagnose Krebs von Angst erfasst. Sie auf den Erkrankten zu werfen, und damit die Quelle der Angst selbst zum Sündenbock zu machen, scheint für eine Weile entlastend zu sein. Krebs als das Lepra unserer Zeit. Der Endgegner: Existenziell bedrohlich, unkontrollierbar, mit Schuld und Stigma behaftet. Ich verstand in diesen wenigen Tagen mehr über projektive Zuschreibungen als mir lieb gewesen war.
„…Die virtuelle Welt hat so einen großen Vorteil. Man kann einfach weiter scrollen. Sich mit dem nächsten Bild, dem nächsten Meme, dem nächsten GIF, der nächsten Anzeige befassen. „Werden Sie Millionär in drei Tagen.“ Ich würde auch einen Kredit aufnehmen für einen Sonnenaufgang mehr …„
Der Wert des Unterschätzten
Ans Meer fahren, einen Sonnenaufgang erleben, einen Hund streicheln. Das war es, was ich machen wollte, wenn ich hier noch mal lebend rauskäme. Das waren die drei Dinge, die am Ende dieser Nacht für mich tatsächlich Bedeutung hatten: natürlich, verbunden und echt.
„… Ich lag im Bett und heulte ins Kissen bis es aufhörte. Was muss ich machen, dass ich umkehren und leben darf, um eben diesen einen weiteren Sonnenaufgang zu sehen, vor dem sich schreiend Möwen kabbeln und Hunde sich in die Wellen stürzen? Diesen einen weiteren Sonnenaufgang, um den ich heute Nacht verhandelt habe, wie um ein Stück Gemüse auf dem Markt …“
Stärke, Unverwüstlichkeit, Perfektionsmus, ja selbst meine Erscheinung in den Augen der anderen, die ich zuvor so wichtig für meine eigene Identität gehalten hatte: geschenkt. Ein dickes Bankkonto oder ein schickes Auto?
Zumindest für mich war es am Ende nicht das, wofür es sich zu leben lohnte. Noch einmal die Erde unter den nassen Füßen und den Kontakt zu warmen, wilden, freien und von Grund auf ehrlichen Wesen zu spüren. Das hingegen waren Gründe genug, um gegen die Angst und den Krebs zu kämpfen. Was auch immer das hätte erfordern mögen.

Vom Ich zum Du zum Wir und darüber hinaus
Ich bin mit der Erfahrung nicht allein. Studien zeigen, dass etwa die Hälfte der Krebspatienten während ihrer Erkrankung eine Verschiebung ihrer Prioritäten erleben, neue Sinnquellen entdecken. Beziehung wird wichtig.
“ … Das Sein ist endlich. Doch wenn das Sein aufhört, verliert das Ego vollkommen an Bedeutung. Das Du wird wichtig. Das Ich verblasst. Dann wird die Beziehung wichtig. Das einander sehen …“
Diese Entwicklung beschreiben auch Tedeshi und Calhoun aufgrund ihrer Forschungen zum posttraumatischen Wachstum. Sie betonen fünf Bereiche, an denen sich posttraumatisches Wachstum zeigt:
- größere Wertschätzung von Kleinigkeiten und veränderter Sinn für Prioritäten
- wärmere, intimere Beziehungen zu anderen
- ein größeres Gefühl der persönlichen Stärke
- Erkennen neuer Möglichkeiten oder Wege für das eigene Leben
- Spirituelle Entwicklung {Tedeschi & Calhoun, 1996).
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch weit von mir gewiesen hätte: Ein halbes Jahr später würde in mir langsam der Gedanke reifen, dass „meine Brust zu verlieren vielleicht das Beste war, was mir passieren konnte“.

Die letzte der Freiheiten auch im Angesicht von Krebs
Viktor Frankl bezeichnete den „Willen zum Sinn“ als das, worum es dem Menschen im Leben geht. Erst im Verstehen und Verwirklichen von Werten gelange dieser zu sich selbst.
Selbstwerden, der Mensch werden, der man ist. Ist das nicht ebenso das, was C. G. Jung als Individuation bezeichnet: Das Privileg des Lebens?
Von hier aus veränderte sich etwas. Nicht plötzlich, mit Sicherheit nicht endgültig und auch nicht ohne Kämpfe im Innen und im Außen. Aber spürbar. Viktor Frankl nannte es die letzte der menschlichen Freiheiten: nicht alles in der Hand zu haben, aber immer noch wählen zu können, welche Haltung man dazu einnimmt.
Mein Blick wanderte von einem „Warum“ hin zu einem „Wofür“.
Crystal L. Park und Susan Folkmann beschrieben diesen Prozess der Sinnstiftung im Rahmen der Bewältigung schwerer Lebensereignisse als „letztendliche Integration der situativen Bedeutung mit der globalen Bedeutung durch kognitive Neubewertungen sowohl der bewerteten Bedeutung der Situation als auch der globalen Überzeugungen und Ziele.“
Anders ausgedrückt:
- Was bedeutet das, was mir gerade passiert, im Kontext meines gesamten Lebens und meiner wichtigsten Werte und Ziele?
- Wie bewerte ich die jetzige Situation, wenn ich sie einmal nicht isoliert, sondern im Lichte meiner wichtigsten Lebensthemen betrachte?
- Ändert sich vielleicht auch meine Sichtweise auf meine bisher wichtigsten Lebensziele?
- Und wie bewerte ich die aktuelle Situation dann?

Es verändert sich nichts. Und doch alles.
Genau das erlebte ich: Nicht die großen Symbole von Stärke, Ordnung und Perfektion wurden mein Grund weiterzumachen, sondern Beziehung, Wärme, Lebendigkeit. Das Sein an sich. Das Geschenk des Lebens.
Das, was wirkich trägt, so meine Erfahrung, ist genau das, was wir uns nicht erarbeiten müssen. Das vor dem wir einfach einmal aufhören sollten, wegzulaufen.
“ … Aufstehen. Und es neu machen …“
Das hatte ich mir im Krankenhaus so sehr gewünscht. Und es ging in Erfüllung.
Wie um alles in der Welt hätte ich diese Erfahrung vergessen können und einfach nach meiner Rückkehr weitermachen können, wie bisher? Ein Monat Krebs, ja, vielleicht war es tatsächlich auch nur jene Nacht, und mein Blick auf das Leben hatte sich in einer Weise verändert, die ich mir nicht hätte träumen lassen.
Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich so vieles, was ich zuvor angestrebt, toleriert oder nicht einmal als störend wahrgenommen hatte, auf keinen Fall mehr in meinem Leben haben können: Ich hatte seinen Wert begriffen.

Wenn ich gewusst hätte, was dafür jedoch noch alles zerbrechen musste, wäre ich vermutlich zurückgeschreckt.
Doch es geschah ganz von selbst: Toxische Beziehungen, Fremdaufträge, aufgezwungene Lebenskonzepte, terrorisierende Gottesvorstellungen und auch mein Selbstideal der Immer-Guten, Freundlichen, Edlen und Hilfreichen zerbrachen, während ich dabei zusah und mir erstaunt die Augen rieb.
Ich habe den Krebs überlebt. Nach dieser Erfahrung gab es für meine Seele keinen Grund mehr, sich korrumpieren lassen: Kein Gold der Welt kann aufwiegen, was Selbstverrat kostet.
Ich räumte auf, forschte in meiner Biografie nach Ursachen. Die Veränderung geschah zwangsläufig. Auf emotionale Übergriffe reagierte ich nun nicht mehr nur mit Trauer, Wut oder Angst. Nein, ich spüre es heute sogar körperlich, wenn meine Grenzen in Gefahr geraten. Mit Ekel und Anspannung: Bereit zum Kampf.
Nachdem das Alte in Flammen aufgegangen war, fand ich echte Perlen in der Asche: Ein Lächeln, das ernst gemeint ist, Worte, die nichts zurückhalten. Die Freiheit, unverblümt zu sein und Nähe ohne Rückversicherung. Kleine große Dinge, die glücklich machen.

Die Fackel weitertragen – auch das macht Sinn
„… Aufstehen. Und es neu machen. Anders machen. Noch ist Zeit …“
So endete diese Nacht. Ich habe unglaubliches Glück gehabt.
Hier teile ich meine Erfahrungen im Interview mit dem Verband freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater. Der Podcast wurde am 30. April 2025 aufgenommen, sieben Monate nach dem das alles geschehen ist.
Aus diesen Erfahrungen heraus habe ich mich in meiner Abschlussarbeit in systemischer ressourcenorientierter und traumasensibler Biografiearbeit mit den Vorteilen befasst, die diese Arbeit im Rahmen einer Krebserkrankung haben kann. Ich bin ein großer Fan davon und denke, mir selbst hätte es viel gebracht, so eine Unterstützung zu erfahren. Daher lege ich diese Methode jedem ans Herz. Hier schreibe ich mehr darüber.