Goldene und silberne Schachfiguren vor schwarzem Grund. Kleine Bauernfiguren rahmen den Weg eines großen silbernen Königs. Die Manipulationstaktik DARVO spielt nicht nach fairen Regeln. Es geht darum, zu gewinnen. Und dabei wird auch nicht vor deiner Wahrnehmung und deiner geistigen Gesundheit Halt gemacht.

DARVO? Das war mir bis vor wenigen Tagen noch kein Begriff. Ich las ein wenig darüber. Und je mehr ich ins Thema einstieg, desto faszinierter war ich. Nein, nicht nur, weil diese Manipulation so simpel wie perfide funktioniert. Mir wurde klar: Gerade erst wenige Tage zuvor hatte ich es über eine knappe Stunde lang selbst erlebt. Schritt für Schritt. Und mir im Anschluss daran eine imaginierte Flasche Champagner gegönnt, weil ich nicht eingeknickt war. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es sich um ein bereits in der Forschung beschriebenes Kommunikationsmuster handelt. Ich spürte nur: Irgendwas ist hier mega-faul. Bleib bei dir selbst und lass dir nichts unterjubeln!

Und dass ist bereits etwas, worauf ich tatsächlich innerlich anstoße. Denn wenn es darum geht, anderer Menschen Verantwortung zu übernehmen, dann bin ich zeitlebens ein Magnet gewesen. Und nein, das ist keine Erkenntnis, auf die ich stolz bin.

Wenn niemand die Verantwortung übernimmt, tut es der Sündenbock. Vielleicht ein Leben lang

Meine Nachbarin öffnet die Tür, gerade, als ich aus dem Fahrstuhl steige. Sie mustert mich streng: „Sagen Sie mal, die Tür war heute Nacht offen, ich dachte, da Sie oft so spät nach Hause kommen…?“ Sie braucht gar nicht weiterzureden. Ich spüre bereits, wie mir die Röte ins Gesicht gestiegen ist. Alles an mir strahlt vermutlich bereits Schuldbewusstsein aus. Fieberhaft versuche ich den letzten Abend zu rekonstruieren. Könnte es sein, dass ich so abgelenkt war? Aber weshalb? Wo war ich mit meinen Gedanken gewesen? Ich kann mich nicht erinnern, die Tür offen gelassen zu haben. Aber auch nicht ganz genau daran, dass ich sie geschlossen hätte. Ich meine, ich mache das doch immer ganz automatisch, aber vielleicht … Der Gedanke, dass es ein anderer Hausbewohner oder sogar sie selbst gewesen sein könnte, der kommt mir erst viel später.

Wenn etwas schiefgeht, dann gehe ich reflexhaft davon aus, dass ich daran schuld bin. Oder zumindest die Verantwortung dafür übernehmen muss.  Doch warum eigentlich?

Im Laufe meines Lebens hatte ich ein Händchen dafür, an Menschen zu geraten, die sich selbst schwer damit taten, Verantwortung zu übernehmen. Und die gern mit mir zusammen waren, weil ich den Job übernahm. Vielleicht kennt ihr den einen oder anderen, dem es ähnlich ging.

Goldene Schachfiguren stehend, davor liegen ungeordnet silberne Schachfiguren auf einem Schachbrett. Bei der ManipulationstechnikDARVO verlieren alle. Eine Lösung für einen Fehler wird nicht angestrebt. Es geht nur darum, das Selbstbild zu retten. Koste es, was es wolle.

Doch warum fällt es manchen Menschen so schwer, einen Fehler einzugestehen?

Ein kleines „bitte entschuldige.“ , oder „sorry, mein Fehler“, könnte so oft binnen Kürze die Situation klären und dazu führen, dass sich alle Beteiligten an die Lösung des Problems machen. Stattdessen wird jedoch die Tatsache, dass das Problem überhaupt benannt wird, zum eigentlichen Stein des Anstoßes. Wenn nicht gleich zu einem Staatsakt. Zum Drama. Zum Trennungsgrund.

Es ist absurd. Und doch folgerichtig, wenn man sich einmal anschaut, was Menschen umtreibt, die Verantwortung scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Und die daher die verrücktesten Manöver starten, sobald sie mit ihrer eigenen menschlichen Fehlerhaftigkeit konfrontiert werden.

Hier geht es nicht darum, dieses Verhalten zu entschuldigen. Ich möchte versuchen, es einzuordnen. So ist es leichter, einen klaren Kopf zu bewahren, wenn man wieder einmal damit konfrontiert wird.

Ein kleiner Fehler oder eine existenzielle Bedrohung?

Wenn ich Narzissmus durch die Linse der Verletzlichkeit betrachte, sehe ich die auf Scham basierende Angst, gewöhnlich zu sein.“

— Brené Brown

Die Professorin für Sozialarbeit Brené Brown, die sich intensiv mit Scham und Verletzlichkeit beschäftigt, lädt zu einem  Perspektivwechsel ein: Narzissmus ist nicht nur Hybris, sondern oft eine Abwehrmechanik gegen die Angst, als durchschnittlich oder gar fehlerhaft erkannt zu werden. Sie zeigt: hinter dem scheinbaren Selbstbewusstsein steckt meist jede Menge Scham, die bei jedem Eingeständnis eines Fehlers droht, übermächtig zu werden.

Brown sagt damit: Der Grund, warum im Erleben mancher Menschen selbst winzige Fehltritte zu gigantischen Dramen werden, liegt nicht am Fehler an sich. Sondern darin, dass ihr Selbstwert oft direkt an ein Bild von Perfektion geknüpft ist, das menschlich nicht aufrechterhalten werden kann. Verantwortung zu übernehmen, heißt für sie dann nicht bloß anzuerkennen, dass etwas schiefgelaufen ist. Sondern anzuerkennen, dass sie nicht fehlerlos sind.

Der Grund liegt oft in einer frühen psychischen Überlebensstrategie, der Spaltung. Sie gaukelt Sicherheit vor, in dem sie die Welt und alles, was in ihr stattfindet, in sichere, aber extreme Schubladen aufteilt. Statt die im Leben nun einmal auftretenden Widersprüche, Ambivalenz oder Mehrdeutigkeit auszuhalten, wird die Realität in gegensätzliche Kategorien zerlegt:

  • Menschen sind entweder gut oder böse.
  • Man selbst ist entweder vollkommen richtig oder vollkommen falsch.
  • Ein Beziehungsmoment ist entweder ideal oder katastrophal.
  • Gott liebt unendlich oder straft ohne jede Gnade.

 In einer Welt, die in Extremen wahrgenommen wird und somit keine Grautöne zulässt, ist „nicht absolut gut“ gleichbedeutend mit „absolut schlecht“. Und das fühlt sich an wie eine existenzielle Bedrohung. Kein Wunder also, dass auch die Reaktionen extrem ausfallen und in keinem Verhältnis mehr zum realen Auslöser stehen. Es ist die Reaktion auf ein Gefühl, das in ihrem Innern tobt. Wenn man das versteht, kann man ihr Abwehrverhalten vielleicht weniger persönlich nehmen und gelassener darauf reagieren.

Was nicht heißt, es zu tolerieren!

Die Spaltung: Stabilität für die Psyche auf Kosten der Realität

Manche Menschen neigen dazu, schnell Allianzen und Feindbilder zu konstruieren. Alles muss in ein klares Narrativ passen: gut gegen böse, Opfer gegen Täter. So bilden sie sich eine überschaubare Welt in Zeiten der Unsicherheit. Nur leider auf Kosten der Realität. Nicht überraschend eignet sich dieses leicht verdauliche, weil wenig komplexe Muster auch gut für Propaganda und Populismus. Die Folge sind nicht selten ein tiefgreifendes Misstrauen oder auch Dramatik, wie sie bei Menschen mit paranoiden oder histrionischen Persönlichkeitsanteilen zu beobachten sind.

Menschen mit starken Borderline-Anteilen erleben intensive Emotionen, instabile Beziehungen und ein sehr fragiles Selbstbild. Wenn sich eine Person plötzlich anders verhält, als erwartet oder eine Grenze setzt, kann das als dramatischer Vertrauensbruch erlebt werden. Aus dem besten Menschen der Welt wird im Handumdrehen ein schrecklicher (und oft auch erlebt hochbedrohlicher) Feind.

Und schließlich spalten auch Menschen mit stark narzisstischen Anteilen. Nur ist ihr Fokus meist weniger auf andere als auf sie selbst gerichtet: Entweder sind sie gradios oder wertlos. Dazwischen gibt es wenig. Daher muss ihr Selbstbild glänzen und alles, was die Illusion bedroht, zum Verstummen gebracht werden.

Wenn aber ein kleiner Fehler bereits gefühlt tödliche Folgen nach sich zieht, dann ist es folgerichtig, jede Übernahme von Verantwortung zu meiden wie die Pest.

Goldene und silberfarbene Schachfiguren, einander gegenüber aufgestellt. Ein goldener König in der Mitte des Schachbretts, vor ihm liegt eine silberne Dame. Bei DARVO geht es nicht um Logik oder Lösung, sondern um Unterwerfung. Das Spiel für den Narzissten ist dann vorbei, wenn du für alles die Verantwortung oder Schuld übernimmst.

DARVO – wie du dazu gebracht wirst, für alles und jeden Verantwortung zu übernehmen

Eine Taktik dabei ist DARVO: Denial (Leugnen) – Attack (Gegenangriff) – Reverse Victim and Offender (Täter-Opfer-Umkehr).

Dieses Manipulationsmuster wurde von der Professorin für Psychologie Jennifer Freyd im Jahr 1997 beschrieben. Es kommt oft in Verteidigungsstrategien im Zusammenhang mit sexualisierter und häuslicher Gewalt vor, doch bei Weitem nicht nur. Wenn man einmal die Nachrichten aufmerksam verfolgt, lässt es sich auch in der Politik häufig beobachten.

DARVO in mäßigerem Ausmaß wird von vielen Menschen angewandt, die mit einer unangenehmen Situation konfrontiert werden. Systematisch und massiv eingesetzt, bringt diese Technik die Gesprächspartner so in Verwirrung, dass sie schließlich beginnen, sich selbst zu beschuldigen und/oder vorziehen, über das Geschehen zu schweigen. Und das ist auch das Ziel. Nachweislich senkt DARVO die Glaubwürdigkeit des Opfers und schränkt damit seine Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen ein.

Denial: Das hier ist nie passiert.

Gaslightingalso die gezielte Verzerrung und Infragestellung der Wahrnehmung des anderen — ist ein zentrales Werkzeug in solchen Dynamiken.

Studien zeigen konkret: Menschen, die Gaslighting erfahren, entwickeln häufiger depressive Symptome, Angststörungen und einen geringen Selbstwert.

Eine qualitative Analyse von Beziehungen mit Gaslighting beschreibt, wie Betroffene zunehmend:

  • ihre eigene Wahrnehmung bezweifeln
  • sich isoliert fühlen
  • emotionale Erschöpfung erleben
  • Schwierigkeiten haben, Entscheidungen zu treffen


Insgesamt wird Gaslighting als Form psychologischer Gewalt verstanden, die gezielt die Autonomie des Opfers untergräbt und das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zerstört. Im Verlauf dieser Dynamik fängst du an, an dir selbst zu zweifeln und deine eigene Wahrnehmung zu hinterfragen: „War ich zu sensibel?“ oder „Ließ sich das doch anders deuten?“ Das Gefühl, unsicher oder „verrückt“ zu sein nach einem solchen Gespräch ist  in der Regel dann nicht Zeichen eines Versagens, sondern die Folge dieser taktischen Züge.

Die Folge: Derjenige, der einen Fehler anspricht ist am Ende derjenige, der die Verantwortung für Dinge trägt, die er nie verursacht hat.

Attack: Wenn kleine Probleme zu epischen Dramen werden

Scheinbar banale Dinge eskalieren von einem Moment auf den anderen wie Kriege: Für jemanden, der seine Identität um ein Bild von Fehlerlosigkeit gebaut hat, darf schlicht „eigene Schuld“ nicht existieren. Stattdessen wird eine Traumwelt geschaffen, in der er unantastbar ist. Longley nennt das „Reality Distortion“ – eine Verdrehung der Realität.

Wenn die Fakten jedoch ihre Version der Realität in Frage stellen, wirst du entweder zum Komplizen (du bestätigst die illusorische Version) oder zum Gegner (du widersprichst). Dazwischen gibt es wenig Raum. Erinnern wir uns: Die Welt erscheint gespalten in Schwarz und Weiß. Grautöne oder gar Farben, wie sie normal sind, haben hier keinen Platz mehr.

Das reale Geschehen wird mit Macht in dieses Muster hineingedeutet, jeder, der es anders sieht, wird zur Bedrohung. Wohlgemerkt, zu einer existenziellen, die die gesamte Identität in Frage stellt. Die entsprechend extreme Reaktion wird als angemessene Selbstverteidigung wahrgenommen. (Und gefühlt ist sie das wohl auch.)

Der Gegenangriff ohne Maß und Mitte

Einmal in der Rolle des Gegners positioniert, muss sich das Gegenüber nun mit Gegenattacken auseinandersetzen, die es völlig perplex zurücklassen.

Dass kann der Friseur sein, der damit droht, seinen Kunden zu verklagen, wenn der ihn darauf hinweist, dass der Schnitt missglückt ist oder der Partner, der die Schränke leerräumt und die Sachen seiner Frau in Mülltüten in den Hof wirft. Die Freundin, die nach einem abgesagten Treffen sofort alle Kommunikationskanäle blockiert. Der Freund, der nach einem verlorenen Schachspiel die Spielfiguren samt Brett vom Tisch fegt, der Geistliche, der nach Kritik an seiner Argumentation ein Hausverbot in seiner Kirche ausspricht. Die Therapeutin, die beim ersten Widerspruch die Behandlung beendet. Die Freundin, die nach einem Streit wochenlang verschwindet und später so tut, als sei nichts geschehen. Die Nachbarin, die nach einer Meinungsverschiedenheit nie wieder grüßt. Die Eltern, die tagelang nicht mehr mit ihrem Kind sprechen und das als erzieherische Maßnahme deklarieren. Die Ehefrau, die im Streit ihren Mann auf dem Balkon aussperrt. Der Expartner, der die Kinder instrumentalisiert. Der Stalker, der dich versucht, in den Wahnsinn zu treiben.

All diese Beispiele wirken vollkommen verrückt, und doch habe ich sie selbst erlebt oder in meinem nahen Umfeld miterlebt. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen und sicher könnt ihr das eine oder andere Beispiel hinzufügen. Es ist verstörend, verletzend. Und der oder die Attackierte fragt sich nicht selten, wo denn all das Gute hin ist, das sie zuvor noch miteinander geteilt hatten.

In einer Welt der Extreme scheint alles erlaubt

Die Antwort: In dem Moment, wo du in der „Feind-Schublade“ steckst, ist es vergessen. Denn die Erinnerung an das Helle, Weiße in eurer gemeinsamen Vergangenheit würde das nun wahrgenomme Dunkle, Schwarze zu einem Grau verwischen. Und genau diese Zwischentöne verunsichern, können nicht gehalten werden. Die Welt ist unter hoher Anspannung nur handhabbar, wenn sie klar in Gut und Böse eingeteilt werden kann. Und du bist in diesem Moment leider das Böse, das Gefährliche, das bekämpft werden darf, kann und auch muss.

Deine eigenen Versuche, dich zu rechtfertigen stellen nur noch den Beweis dafür dar, dass du wirklich so abgrundtief schlecht bist, wie du in diesem Moment auch tatsächlich wahrgenommen wirst. Und nicht selten treibt dich das verrückte Spiel dazu, irgendwann tatsächlich so zu fühlen und zu handeln, wie es der Rolle entspricht, die dir gerade zugeschoben wurde: Du wirst wirklich aggressiv, ungerecht oder verlierst die Selbstbeherrschung. Und bist am Ende über dich selbst entsetzt.

Doch die vermeintliche Selbstverteidigung muss nicht immer nach Kampf aussehen. Scheint der aussichtslos, können auch Schuldeingeständnisse zur Anwendung kommen.

Strategische Reue

Wenn ein narzisstisch geprägter Mensch doch mal scheinbar Einsicht zeigt oder sich entschuldigt, ist das somit oft strategisch statt echt. Wenn etwas wertvolles auf dem Spiel steht (z. B. Nähe, Ansehen), dann wird Zerknirschung demonstriert. Doch oft gleich wieder realtiviert und  selten mit echtem Gefühlsinhalt.

Typische Tricks

  • „Es tut mir leid, dass du dich so fühlst.“ (Warum und weshalb, darüber reden wir jetzt mal nicht.)
  • „Ja, das habe ich gemacht. Aber so schlimm war es doch gar nicht.“ (Die Verletzung im Gegenüber wird relativiert.)
  • „Es tut mir leid, aber du hast ja auch …“ (Oft wandert dann die Schuld vom Verursacher direkt zum Gegenüber.)
  • „Es tut mir leid, aber denke doch mal an … (XY, an mich, an beliebiges Beispiel aus der Vergangenheit) …“ (Das ist Whataboutism. Dein Schmerz wird relativiert, in dem er mit einem anderen Leid verglichen wird.)
  • Es tut mir leid, dass du mir nicht mehr vertraust. (Der Vertrauensbruch ist nun das Problem, nicht die Ursache, die dazu geführt hat.)

Das ist keine echte Reue, sondern ein taktisch sinnvolles Zugeständnis, wenn etwas auf dem Spiel steht: Aufmerksamkeit, Status, Geld. Kurz: Alles, was das so verzweifelt verteidigte ideale Selbstbild in Frage stellen könnte. Erinnern wir uns: Es geht nicht nur um einen kleinen Kratzer im Krönchen. Es geht immer ums Ganze, um die Existenz. Sobald die Bedrohung vorbei ist,hören auch die Zugeständnisse wieder auf. 

Echte Reue hingegen würde bedeuten: reflektieren, den verursachten Schaden anerkennen, echtes Bedauern, und die Bereitschaft, künftig anders zu handeln. Genau das aber verlangt emotionale Verletzlichkeit und Empathie, die sich ein Mensch, für den die Welt aus Sieg oder Niederlage besteht, nicht erlauben kann.

Reverse Victim and Offender: Die Täter-Opfer-Umkehr

Ist die Wahrnehmung des Gegenübers erst einmal in Frage gestellt und hat die Attacke ihr Übriges getan, trifft die folgende Täter-Opfer-Umkehr kaum noch auf Widerstand. Das völlig verwirrte Gegenüber übernimmt die Verantwortung für den ursprünglichen Fehler und mit ihr gleich noch all die Schuld- und Schamgefühle, die der andere nicht spüren will. Und die sind – wie eingangs gezeigt – riesengroß.

Der ursprüngliche Verursacher lehnt sich nun zurück und genießt die Entschuldigungen und Wiedergutmachungsversuche. Die tränenreichen Bemühungen, die ursprüngliche Bindung – die ja der andere durch sein Verhalten zerstört hat – wieder herzustellen. Und vielleicht auch den Schmerz in den Augen seines Gegenübers, die Tränen, die Zerknirschung. Schließlich hat er selbst unter den (nun scheinbar erwiesenermaßen falschen und ungeheuerlichen Anschuldigungen, er hätte einen Fehler begangen) sehr gelitten. 

Wer würde es sich bei einer solchen Dynamik nicht künftig zweimal überlegen, ein Problem überhaupt noch anzusprechen?

Gläserne durchsichtige Schachfiguren und gläserne schwarze Schachfiguren auf einem Schachbrett, leicht verschwommen. In Traumabindungen verschwimmt die Wahrnehmung und vermischt sich mit der verzerrten Realitätswahrnehmung des Angreifenden. DARVO führt langfristig zu traumatischen Bindungen und gefährdet die psychische Gesundheit des Opfers.

DARVO führt zu traumatischen Bindungen

Und so wechseln in toxischen Bindungen Schädigung, Versöhnung, ein neuer Vertrauensaufbau und die nächste Eskalation oft sehr schnell ab. Sie verursachen im empathischen Partner das, was als traumatische Bindung oder Traumabonding bekannt ist: Eine Bindung, die nicht auf gemeinsamen Zielen, Werten oder echter Nähe beruht, sondern auf einem Hormoncocktail im Gehirn, der in dem schwindelerregenden Auf und Ab des Nervensystems entsteht und ein suchtartiges Verlangen nach dem nächsten „Schuss Erleichterung“ hervorruft.

DARVO, das ist keine erwachsene Kommunikation, die irgendeine befriedigende Lösung für alle Beteiligten nach sich zöge. Es ist ein emotionales Drama, bei dem es irgendwann um alles Mögliche geht, nur nicht mehr um das eigentliche Problem.

Deshalb ist ein äußerer Halt wichtig: Dokumentationen, Fakten. Menschen, denen man vertraut, die eine andere Sichtweise einbringen und die eigene Wahrnehmung validieren können. Etwas, worauf man sich beziehen kann, wenn die Erinnerung plötzlich unter Druck gerät.

Der Ausweg aus dem DARVO-Spiel

Man kann sich nun dafür entscheiden, sich mit der Rolle des sich ewig Fügenden, der immer Versöhnenden abzufinden, um die Beziehung weiter aufrecht zu erhalten. Das kann tatsächlich auch sehr lange gut funktionieren. Auf Kosten der eigenen Freiheit, Selbstachtung und langfristig wohl auch seelischen Gesundheit. Denn immer dann, wenn wieder sichtbar wird, dass die Realität nun einmal nicht zum grandios aufgeblasenen Selbstbild passt (und das tut sie nie), müssen die unerträglichen Scham- und Schuldgefühle wieder neu auf das Gegenüber abgeschoben werden. Das zermürbt die Wahrnehmung und das Selbstvertrauen. Irgendwann bist du dankbar, dass sich überhaupt noch jemand mit dir befasst.

Viele Beziehungen, Ehen, Arbeitsverhältnisse und Familien funktionieren tatsächlich so: Eine schicke Fassade mit unermesslichem Leid dahinter, und einer Hoffnung auf Besserung, die aufgrund der beschriebenen Dynamik aus Spaltung, Schuld- und Schamabwehr in einer solchen Konstellation gar nicht eintreten kann.

Ganz im Gegenteil. DARVO führt nach Beobachtungen vielmehr dazu, dass die Opfer sich einsam und beschämt fühlen und bei der Meldung von Missbrauchsvorfällen eher zu Schweigen und Zögern neigen. Darüber hinaus entsteht im Umfeld der Eindruck, dass Opfer allgemein lügen würden und schlimmstenfalls den Missbrauch doch irgendwie gewollt haben könnten. Und auch die Opfer kommen, abhängig davon, wie lange sie der verdrehten Logik ausgesetzt waren, früher oder später an den Punkt, dass sie sich selbst verantwortlich für den Missbrauch fühlen. Gewalt, Drohungen und andere Angriffe gegen das Opfer hören damit nicht auf, sondern können sogar noch zunehmen.

Die Realität akzeptieren

Ohne Illusionen. Ohne Groll auf sich selbst. Das ist eine Alternative.

Es ist nicht deine Schuld, dass du zum Ziel eines Narzissten geworden bist. … Deine Empathie und Freundlichkeit sind Stärken, keine Schwächen.“
— Dr. Susan Heitler – klinische Psychologin

Empathie, Großzügigkeit, Glaube an das Gute im Menschen, das sind genau die Eigenschaften, die menschlich machen. Und auch wenn diese Eigenschaften gezielt dazu genutzt wurden, zu verletzen, so bleiben sie doch wertvoll. Oft fühlt sich das Opfer einer solchen Attacke beschämt, weil es hinter das Licht geführt wurde. Doch stattdessen ist Selbst-Mitgefühl angezeigt: Grundlegend Gutes wurde ausgenutzt. Die Verantwortung liegt bei der Person, die das tat. Auch wenn diese in ihrer eigenen psychischen Welt einen Grund dafür sah. Objektiv war es Unrecht. Und objektiv hast du viel Besseres für dein Leben verdient. Die Entscheidung liegt nun bei dir.

Der Blick in die Vergangenheit hilft, diese Muster zu erkennen. Der Blick in die Zukunft ist damit verbunden, sich zu fragen, ob das, was wir uns erhoffen tatsächlich von dieser Beziehung zu erwarten ist. Das kann schmerzhaft sein. Doch es öffnet den Weg zu einem schöneren, friedvolleren Leben in der Zukunft.

Wir alle verdienen Verbindungen, in der es beide Seiten einmal verbocken können und jeder seine Verantwortung daran trägt. Und in denen danach gemeinsam daran gearbeitet wird, es besser zu machen. Ohne emotionales Theater.

  • Stütze dich auf das, was du tatsächlich beobachtest.
  • Glaube an deine Wahrnehmung.
  • Höre auf deine Intuition.
  • Bewahre ein Netzwerk aus Menschen, denen du vertrauen kannst.
  • Und denke daran: echte Liebe, Freundschaft und Vertrauen wachsen in der Fähigkeit, Fehler einzugestehen und sich gemeinsam zu entwickeln.

Und die offene Tür?

Ich werde nicht mehr erfahren, wer sie offengelassen hat. Vielleicht war ich es tatsächlich selbst, vielleicht jemand anderes. Doch ich übe mich darin, zunächst meine Verantwortung zu prüfen, bevor ich bereitwillig den Sündenbock spiele. Auch wenn das bedeutet, Konfrontation in Kauf zu nehmen.

Es funktioniert nicht immer, aber ich lerne. Stück für Stück. Ich lerne, innezuhalten, statt sofort Abbitte zu leisten. Ich lerne, meine Wahrnehmung zu überprüfen, statt sie reflexhaft in Zweifel zu ziehen. Und ich lerne, dass echte Verantwortung nicht bedeutet, immer die Erste zu sein, die sich entschuldigt, sondern auch zu erkennen, wann das gar nicht meine Aufgabe ist.

Was einem in der Kindheit oft verschwiegen wurde: Verantwortungsvolles Handeln heißt auch, Grenzen zu setzen.

Und das ist vielleicht das Mutigste, was man tun kann, wenn man jahrelang für andere mitgedacht, mitgefühlt und mitgelitten hat.

Ein roter Tischtennisball liegte auf einem Schachbrett mit Schachfiguren, davor eine rote Tischtenniskelle. Blick von oben auf das Schachbrett. Bei DARVO kann man nur gewinnen, in dem man gar nicht in die Kommunikation einsteigt, sondern das Spiel aus einer Metaebene betrachtet und den eigenen Regeln folgt. Besser ist es, ganz auszusteigen.

Erwachsene, die in ihrer Kindheit dazu gebracht wurden, zu glauben, dass sie einen im Familiensystem abwesenden Menschen ersetzen müssten, sind erfahrungsgemäß besonders schnell dazu bereit, fremde Verantwortung zu übernehmen. Das hat in ferner Vergangenheit seine sehr guten Gründe gehabt. Heute jedoch ist es nicht mehr hilfreich. Warum gerade Ersatzkinder hiervon betroffen sind und was sie dagegen tun können, das habe ich auf der Webseite rund um das Ersatzkindsyndrom – https://ersatzkinder.de in dem Blogartikel „Schuld und Schuldgefühle bei Ersatzkindern: Der Tanz auf dem Vulkan“ ein wenig hintergfragt.

In diesem Artikel verwendete Literatur

Bellomare, M., et al. (2024). Gaslighting Exposure During Emerging Adulthood. Open-Access

Brown, B. (2012). Daring Greatly: How the Courage to Be Vulnerable Transforms the Way We Live, Love, Parent, and Lead. Gotham Books.

Carnes, P. (1997). The Betrayal Bond: Breaking Free of Exploitive Relationships. HCI.

 Freyd, J. J. (1997). DARVO: Begriffseinführung im Kontext der Betrayal-Trauma-Forschung. Online-Ressource.

Harsey, S., Zurbriggen, E. L., & Freyd, J. J. (2017). Perpetrator Responses to Victim Confrontation: DARVO and Victim Self-Blame. Journal of Aggression, Maltreatment & Trauma, 26, 644–663.

Harsey, S. (2020). Deny, Attack, and Reverse Victim and Offender (DARVO). Journal of Aggression, Maltreatment & Trauma. Überblicksartikel.

Kernberg, O. F. (1975). Borderline Conditions and Pathological Narcissism. Jason Aronson.

Klein, M. (1946). Notes on Some Schizoid Mechanisms. International Journal of Psycho-Analysis, 27, 99–110.

Klein, W., et al. (2023). A Qualitative Analysis of Gaslighting in Romantic Relationships. Personal Relationships.

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