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Ich war ein „Frommer“.
Ein typisch „Frommer“.
Ein ganz „Frommer“.
Ich war ein gefährlich blinder „Frommer“!
Als ein solcher „Frommer“ habe ich …
… mich für besser gehalten als Andere.
… meine „Blase“ für die einzige Wahrheit gehalten.
Innerhalb der „Blase“ galt ich als kognitiv offen und lernbereit.
Aber gleichzeitig war ich emotional abgestumpft und blind.
Ich redete von Liebe – aber kannte nur Pflicht.
Ich sprach von Gnade – aber lebte im Leistungsdruck.
Ich bat oft um Vergebung – auch wenn ich kaum wusste, wofür.
Und ich vergab schnell – nicht aus Größe, sondern um Konflikt zu vermeiden.
Ich nannte es Versöhnung – doch oft war es Selbstverleugnung.
Ich glaubte, dienen zu müssen – bis hin zur Selbstaufgabe.
Ich war sanft, wo Klarheit gefordert war.
Ich war hart, wo Zärtlichkeit nötig gewesen wäre.
Ich war angepasst, wo Widerstand nötig gewesen wäre.
Ich war laut für Gott – und innerlich stumm.
Ich glaubte, meine Gefühle stören –
also lernte ich, sie zu ignorieren.
Ich dachte, funktionieren sei wichtiger als fühlen.
Und so habe ich mich selbst abgeschnitten –
Und niemanden mehr wirklich erreicht.
Ich lernte „Bedürfnisse sind nicht erwünscht“ –
Nur Funktion und Fassade.
Ich nannte Gehorsam „geistlich“ –
Und verlernte, mir selbst zu glauben.
Ich war bereit, für Gott alles zu geben –
aber nicht bereit, mir selbst ehrlich zu begegnen.
Ich hielt mich für bescheiden –
doch suchte Bestätigung im Eindruck, den ich machte.
Ich dachte, ich sei „frei von Weltlichem“ –
aber in Wahrheit war ich gefangen in geistlichen Konzepten.
Ich war loyal – bis zur Selbstverleugnung.
Ich war geduldig – bis zur Apathie.
Ich spielte die Rolle des Heiligen – aber spürte mich selbst nicht mehr.
Ich war „korrekt“ – aber blieb meist kalt.
Ich nannte es Opferbereitschaft –
aber es war Selbstverrat.
Ich war nicht böse.
Aber ich tat Böses – aus Überzeugung.
Ich war nicht herzlos.
Aber ich habe Herzen verletzt – aus „Gehorsam“.
Ich handelte aus Überzeugung –
und bin doch in die falsche Richtung gerannt.
Ich war blind für das Leben –
und habe es anderen beschnitten, ohne es zu merken
Ich habe Frances nicht gesehen –
nicht in ihrer Not, nicht in ihrem Schmerz,
nicht in ihrer Stärke, nicht in ihrer Schönheit.
Ich habe sie enttäuscht,
als sie am meisten jemanden gebraucht hätte,
der einfach nur da ist.
Fühlbar. Echt. Menschlich.
Ich war neben ihr – aber nicht mit ihr.
Ich war ihr Mann – aber nicht ihr Halt.
Ich war voller Worte – aber ohne Herz.
Und schlimmer noch:
Ich habe sie an sich selbst zweifeln lassen.
An ihrem Wert. Ihrer Würde. Ihrer Lebensenergie.
Als wäre ihre Verletzlichkeit ein Defizit,
und nicht das mutigste Geschenk, das man machen kann.
Ich habe sie verletzt – tiefer, als ich je gedacht hätte,
nicht weil ich ein Monster war,
sondern weil ich ein „Frommer“ war,
der nichts vom Leben verstand.
Ich bin nicht mehr dieser Fromme.
Aber ich war es.
Und ich werde nie vergessen,
wie viel Zerstörung möglich ist,
wenn man Gott sucht –
und dabei den Menschen verliert.
Aber ich lebe noch –
oder vielleicht wieder –
vielleicht im tiefsten Sinn:
zum ersten Mal.
Ich lerne zu fühlen –
auch wenn es mir manchmal Angst macht.
Ich lerne zu hören –
ohne in Schubladen zu sortieren.
Ich lerne, ganz neu Mensch zu sein.
Vielleicht beginnt es genau hier.
Nicht im Licht –
sondern mit dem Blick in den Schatten.
Dort, wo Wahrheit nicht trennt,
sondern verbindet.
Und heilt.
[…] Ich war ein „Frommer“. […]
Ich war ein Frommer
Hallo Stephan,
Du sprichst mir aus dem Herzen.
Mir ist es ähnlich gegangen und erst jetzt, Jahre später finde ich meine persönliche Spiritualität und die Offenheit mir und anderen gegenüber.
Vielen Dank für deine ehrlichen Gedanken.
Hallo Rita,
ja – manchmal dauert es lange …
Ich bin jetzt 61 Jahre alt und habe schon im Jahr 2001 begonnen (kognitiv) gegen geistlichen Missbrauch zu schreiben.
Aber ich habe erst jetzt – durch die bedingungslose Liebe meiner Frau! – erfahren, dass das alleine nicht genügt. Erst wenn auch die Gefühle zugelassen und alte Prägungen neu justiert werden – erst dann beginnt das Erwachen.
Es ist, als ob ich bisher mit „angezogener Handbremse“ gelebt hätte!
Liebe Grüße
Stephan
Liebe Rita, das ist wunderschön, von dir zu lesen.
Ja, tatsächlich ist das auch meine Erfahrung: Die persönliche Spiritualität, die eben nicht von den Vorstellungen anderer Menschen abhängt, schafft erst wirkliche Offenheit. Sich selbst und anderen gegenüber. Mein Weg war ein anderer als Stephans, aber er war auch eine Achterbahnfahrt voller Zweifel und Irrtümer. Und dann, als wirklich gar nichts mehr ging, da der Glaube, von dem ich dachte, dass er so sein sollte, mit dem Leben, der Liebe und gesunden zwischenmenschlichen Beziehungen einfach gar nicht mehr vereinbar war, da begann ich alles zu hinterfragen – beginnend bei Null.
Es tat weh. Und: Es war das Beste, was mir passieren konnte.
Was gehen musste waren Selbstbilder, Strukturen, die vermeintliche Sicherheit boten, Freundschaften, die definitiv keine waren. In gewisser Weise auch ein „guter Ruf“ in bestimmten Kreisen, der bei Lichte besehen zu gar nichts taugt.
Was bleibt, ist ein liebevoller Gott, der für das Leben steht.
Der Weg war nicht ohne, führte durch Krankheit und Depression. Ganz sicher schreibe ich hin und wieder noch darüber.
Am Ende hat er sich gelohnt.
Alles Liebe dir.
Frances