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Krebs – das Schreckgespenst unserer Zeit. Die Diagnose „Brustkrebs“ schlug mitten hinein in meine Ausbildungen zur Traumafachberaterin und zur Expertin für systemische Biografiearbeit und wirbelte meine sorgsam aufgestellten Pläne durcheinander. In den folgenden Wochen erlebte ich sowohl das Getragensein durch ein fantastisches Gesundheitswesen, tiefe menschliche Begegnungen und erkannte die Resilienz, die in uns erwacht, wenn es notwendig ist. Doch ich wurde auch mit Verstörendem konfrontiert: Projektionen, Ängsten und Ausgrenzung, magischem Denken, Verteufelung und Schuldzuweisung.
Mit alledem sind Krebspatient/innen konfrontiert. In einer Zeit äußerster Verletzlichkeit, in der es wie nie zuvor auf den eigenen Überlebenswillen ankommt.
Ich habe meine Krebserkrankung überlebt. Und einige Wochen später den Faden meines Lebens neu aufgenommen und die für das Zertifikat notwenige Hausarbeit bei der Isolde Richter Heilpraktiker- und Therapeutenschule geschrieben. Im Zuge dessen fragte ich mich natürlich, ob Biografiearbeit nicht auch im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung hilfreich sein kann.
Was ich entdeckte, war ein Schatz! Und ich bin überzeugt davon, dass Biografiearbeit, sofern sie einfühlsam, ressourcenorientiert und traumasensibel durchgeführt wird, ein wunderbares Instrument ist, um die Lebenskraft zu wecken und aufrechtzuerhalten, die es braucht, um Schritt für Schritt durch die Angst und die Schmerzen zu gehen, die die Erkrankung mit sich bringt. Mit einem klaren Ziel vor Augen und dem Bewusstsein der eigenen Kraft. Versöhnt mit dem Leben und mit sich selbst.
Ich stand mitten auf dem Gehweg und starrte auf das Display. Dann hob ich den Blick und schaute fragend in fremde Gesichter. Sie wirkten fahl und bedrohlich. Die Sonne tauchte die Welt an diesem wunderschönen Sommertag in graues Neonlicht. Weit entfernt der Lärm der Straße, von dem mich eine dicke Milchglasscheibe trennte. Wem gehörte diese Hand, die das Telefon hielt? „Kommen Sie sofort“, hatte der Arzt gesagt. „Die Befunde sind schon da.“ Unmöglich. Die Wäsche muss gewaschen werden. Bäume, Häuser, die Steinplatten des Gehwegs, all das konnte ebenso wenig real sein, wie die Worte des Arztes. Das hier geschah nicht mir. Es geschah einer Fremden, die zufällig meinen Namen trug. Und während ich diese Frau dabei beobachtete, wie sie mein Handy in meine Tasche gleiten ließ, machten sich Beine, die nicht meine waren, auf den Weg ins Krankenhaus.
Inhaltsverzeichnis
1 Die Konfrontation mit der Endlichkeit
2 Resilienz und posttraumatisches Wachstum
3 Biografiearbeit als Schlüssel
4 Sinn finden – Kraft schöpfen – Weiterleben
5 Traumasensibilität in der Biografiearbeit
5.1 Hintergrundwissen zum Traumageschehen
5.2 Handlungsempfehlungen für Biografiearbeiter/innen
1 Die Konfrontation mit der Endlichkeit
Unabhängig von Prognosen und Heilungschancen, von Tumorbiologie und Wachstumsraten konfrontiert uns die Diagnose Krebs mit mehreren unumstößlichen Fakten: Erstens: Die menschliche Existenz ist endlich. Zweitens: Wir können das Leben, Dinge, das wir uns aufgebaut und über das wir glauben, die Kontrolle zu haben, Menschen, Möglichkeiten und Dinge, die einen Wert für uns haben, verlieren. Drittens: Wir können am Ende nichts dagegen tun. Für Irvin D. Yalom, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Stanford University in den USA, ist jede Angst, die wir im Leben erfahren, letztlich eine Angst vor dem Tod. Der „Mutter aller Ängste“, der Angst vor dem Tod als der „wunden Stelle in unserem Leben“, wie der Psychiater Kalbitzer und der Psychoanalytiker Grieser es ausdrücken, begegnen wir im Moment der Diagnose ganz unmittelbar (Leu, 2021, S. 113–114).
Eine Krebserkrankung rüttelt an unserer Identität. Auf einmal erleben wir uns verletzlich, ausgeliefert, von der Hilfe anderer Menschen existenziell abhängig. Diese Attribute passen in der Regel nicht in das Konzept, das wir uns von uns selbst gemacht haben (Petzold, 2012, S. 54), das wir für wahr und kontinuierlich erachtet hatten und das nun durch einen Bruch in unserer Biografie in Frage gestellt wird (Schörmann, 2021, S. 60).
Und doch möchte ich schon an dieser Stelle den Ausführungen ein wenig die Dramatik nehmen:
Nicht jede Konfrontation mit der Endlichkeit muss zwingend zu einer Traumatisierung führen. Und nicht jede Traumatisierung zieht zwangsläufig eine Traumafolgestörung nach sich. Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen und im Folgenden auch begründen. Denn ich halte es für ausgesprochen wichtig, um sowohl den Betroffenen als auch dem Umfeld von an Krebs erkrankten Menschen die Scheu vor der Auseinandersetzung mit dieser besonderen Situation zu nehmen. Denn ob und wie die Diagnose, die Erkrankung und die Behandlungen psychisch bewältigt werden, ob sie möglicherweise sogar zu persönlichem Wachstum und einem Zuwachs an Lebensfreude und Sinnerleben führen können, hängt gar nicht so sehr von dem Erlebten selbst ab. Viel ausschlaggebender ist, inwiefern die Betroffenen auch in dieser Situation noch die Erfahrung von Sicherheit, Stabilität und Selbstwirksamkeit machen können.
Der Begriff „Trauma“ beschreibt ein „außergewöhnliches, das Alltagsverständnis sprengendes Ereignis, das die psychische und, je nach Traumageschehen auch die physische Integrität eines Menschen, tief verletzt.“ Dabei wird von einem „objektiv belastenden Ereignis“ ausgegangen, „das außerhalb der üblichen menschlichen Erlebniswelt liegt.“ (vom Hoff, 2023, S. 4–5) Wenngleich das bei einer Krebserkrankung bejaht werden kann, so spricht die Fachwelt von einer Traumatisierung nur dann, wenn damit auch ein subjektives „Erleben von absoluter Hilflosigkeit, Ohnmacht und Entsetzen“ (vom Hoff, 2023, S. 4–5) einhergeht, einem „intensiven Empfinden […] vollkommen wehrlos, ausgeliefert und existenziell bedroht zu sein“ (ebd.). Erst in diesem Zusammenspiel dieser beiden Erfahrungen erfolgt die Traumatisierung.
2 Resilienz und posttraumatisches Wachstum
Die gelungene psychische Verarbeitung jedoch kann die Entwicklung von Traumafolgestörungen selbst nach Extremerfahrungen verhindern (Wickert & Mayrhofer, 2021, S. 1). Hilfreich sind hier ein realistisch-optimistischer Blick auf die Ereignisse (Reichhart & Pusch, S. 35) und das Finden von Sinn im Erlebten (Mangelsdorf, 2020, S. 30).
Berühmt ist die Lebensgeschichte von Viktor Frankl, der seine Kraft zum Überleben im Konzentrationslager darin fand, sich vorzustellen, wie er einst von seinen Erfahrungen berichten würde (Zander, 2011, S. 507).
„Traumata rütteln […] an der Identität des Betroffenen“, schreibt Schröder (Schröder, 2019b, S. 33) und „hinterfragen auch eigene Einstellungen zum Leben“ (ebd.). Zu einem Verlust der Identität müssen sie nicht führen. Biografische Erfahrungen, die im Sinne des Kohärenzgefühls verstanden und als sinnhaft erlebt werden können – zum Beispiel, dann, wenn sie zu einer Neuausrichtung oder Neubewertung der eigenen Biografie führen – können auch unter schwierigen Bedingungen besser in das eigene Identitätskonzept integriert werden und sich sogar positiv auf die Selbsteinschätzung, Zuversicht und Optimismus auswirken (Hölzle, 2009, S. 75–76).
Hier zeigt sich die Hoffnung auf ein „Emporwachsen aus dem Sumpf“ (Zander, 2011, S. 13), ein posttraumatisches Wachstum (Mangelsdorf, 2020, S. 26), das über die Resilienz – die psychische Widerstandkraft eines Menschen – noch hinausgeht und zu einer tatsächlichen Erweiterung der psychischen Ressourcen führt (ebd.). Hierfür ist jedoch laut Mangelsdorf (Mangelsdorf, 2020, S. 28–29) die Unterstützung der Verarbeitung des traumatischen Ereignisses durch positive Emotionen erforderlich.
So kommt der stabilisierenden, Sicherheit vermittelnden und ressourcenstärkenden Unterstützung des Betroffenen während und nach der Krebserkrankung eine herausragende Bedeutung zu. Für Krebspatient/innen, die sich in der Tat in vielen Fällen existenziell bedroht sehen und nicht selten einen biografischen Bruch erleben, ist es wichtig, dass sie ein Maß an Selbstwirksamkeit erleben können, das sie dazu befähigt, noch immer in einem gewissen Rahmen gestaltend einzugreifen. So suchen Menschen insbesondere nach schweren Erfahrungen nach einem Sinn im Erlebten (Maercker & Forstmeier, 2013, S. 18). Viktor Frankl vertrat sogar die logotherapeutische Grundüberzeugung, dass der Mensch einen „unbedingten Willen zum Sinn“ habe (Hänseroth, 2022e, S. 6). Er führt in die ethisch-existenzielle Fragestellung „Was ist ein lohnenswertes Leben?“ (Leu, 2021, S. 24)
3 Biografiearbeit als Schlüssel
Hier kann Biografiearbeit auf mehreren Ebenen unterstützen: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte kann dazu beitragen, sich an bereits in der Vergangenheit erfolgreich angewandte Bewältigungsstrategien zu erinnern, auf gelungene Problemlösungen zurückzugreifen. Lösungs- und ressourcenorientierte Biografiearbeit würdigt die Lebensleistung der Betroffenen. Sie erkennt sie als Überlebende an (vom Hoff, 2023, S. 22–23) und fördert resilienzstärkende Aspekte wie Optimismus, Akzeptanz, Zukunftsorientierung, Überzeugung, Selbstwirksamkeit und – aus ihrer systemischen Sichtweise heraus – den Aufbau und die Pflege eines unterstützenden Netzwerks (Hänseroth, 2022g, S. 151) bzw. die Identifizierung und die Trennung von schädlichen sozialen Einflüssen.
Nichtsdestotrotz handelt es sich bei einer Krebserkrankung um eine potenziell traumatisierende Situation, wodurch der Lösungs- und Ressourcenorientierung sowie der Stabilisierung des Betroffenen eine besondere Bedeutung zukommt. Je nach Vorgeschichte der Betroffenen ist es auch möglich, dass die aktuellen Erlebnisse von Hilflosigkeit, Angst und Schmerz alte, noch nicht verarbeitete traumatische Erfahrungen ins Bewusstsein rufen. Ich halte daher ein traumasensibles Vorgehen für unabdingbar (Schröder, 2019a, S. 24). Für Menschen ohne Therapieerlaubnis kommt hinzu, dass jede Form von gezielter Traumaexposition strikt untersagt ist (Schröder, 2019c, S. 1). Da im Rahmen der Biografiearbeit unter Umständen diese Grenze versehentlich überschritten werden kann, ist besondere Vorsicht im Umgang mit den Patient/innen erforderlich und eine sorgfältige Einschätzung der Gesamtsituation unter Berücksichtigung etwaiger bestehender psychischer Vorerkrankungen unerlässlich.
4 Sinn finden – Kraft schöpfen – Weiterleben
Positive Emotionen, soziale Unterstützung und das Erkennen von Sinn in dem Erlebten – diese drei Faktoren konnten nach einer im Jahr 2015 von Mangelsdorf und Eid durchgeführten internationalen Vergleichsstudie in hohem Maße mit posttraumatischem Wachstum in Verbindung gebracht werden (Mangelsdorf, 2020, S. 27). Systemische Biografiearbeit, traumasensibel, ressourcen- und lösungsorientiert durchgeführt, stärkt alle drei Aspekte, indem ausdrücklich der Problemfokus aufgegeben und der Blick der Gesprächspartner konsequent auf die eigene Handlungsfähigkeit, Selbstwirksamkeit und eine positive Zukunftsgestaltung ausgerichtet wird (Hänseroth, 2022a, S. 1).
4.1 Positive Emotionen
Mit einer realistisch-optimistischen Grundhaltung, auf die die Klient/innen vom Biografieberater oder der Biografieberaterin immer wieder zurückgeführt werden, trainiert Biografiearbeit das Erleben positiver Emotionen und die Regulierung und Bewältigung belastender Affekte. Der eigenen Lebensgeschichte können, gegebenenfalls nach einer Neubewertung bestimmter Ereignisse oder einem kritischen Hinterfragen einschränkender Glaubenssätze Emotionen wie Dankbarkeit, Stolz oder Versöhntheit zugeordnet werden. Statt Verzweiflung oder auch Wut über die Erkrankung kann der Fokus in der Gegenwart zum Beispiel auf Geborgenheit oder Freude, innere Ruhe oder Lebendigkeit gerichtet werden. Hoffnung, Zuversicht, Glaube, Mut und Vertrauen sind Emotionen, die in die Zukunft gerichtet sind und als ein Gegengewicht zu der häufig im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung vorhandenen Angst dienen können.
4.2 Selbstwirksamkeit
Selbstwirksamkeit kann im Rahmen von Biografiearbeit zum Beispiel allein dadurch erfahren werden, dass die Betroffenen, selbst wenn sie die aktuellen Umstände nicht ändern können, eventuell auch nicht den Verlauf oder Ausgang der Erkrankung in ihrem Sinne beeinflussen oder vergangene Entscheidungen anders treffen können, immerhin noch als „Regisseure ihrer eigenen Lebensgeschichte“ agieren können (Hänseroth, 2022d, S. 8–9). Sie können, ganz im Sinne Viktor Frankls, ihre Haltung zu ihrer eigenen Biografie selbst bestimmen. Das ist eine Freiheit, die ihnen niemand nehmen kann. In ihrer Arbeit an der eigenen Lebensgeschichte können sie biografische Identität herstellen, Diskontinuität bewältigen (Schörmann, 2021, S. 63), Ereignisse reframen und neu bewerten, Schwerpunkte verändern, sich mit dem eigenen Leben aussöhnen. Gerade bei traumatisierten Menschen, die häufig auch unter einer Beeinträchtigung des Selbstwertes leiden, ist die Ausrichtung auf eigene Ressourcen hilfreich, um eine realistischere Einschätzung der eigenen Potenziale zu fördern und das Selbstwertgefühl zu steigern (Großmeyer, 2019, S. 48).
4.3 Soziale Interaktion
Biografiearbeit bedeutet soziale Interaktion. Darin liegt die Kraft der Geschichten: Es ist die Möglichkeit, die eigene Subjektivität zu konstruieren, zu entscheiden, was geteilt und was als Geheimnis bewahrt werden soll, Menschen in das eigene Leben hereinzulassen und dabei auch die persönlichen Grenzen zu schützen (Hänseroth, 2022c, S. 8–9). Das Teilen von Erfahrungen mit einem Dritten – möglicherweise zum ersten Mal – ermöglicht, sie aus einer anderen Perspektive zu betrachten (Schröder, 2019c, S. 31) oder aber im Gegenüber Empathie zu erfahren, die sich der Betroffene selbst (bisher) nicht zu geben vermocht hatte. In der Traumaforschung hat sich gezeigt, dass „am meisten Menschen Menschen helfen“: stabile, verbindliche und verlässliche soziale Beziehungen. Dies gilt vor allem bei der Verarbeitung von Monotraumata, d.h. einmaligen Ereignissen, wie sie z. B. eine schwere Erkrankung darstellen kann (vom Hoff, 2023, S. 19). Man kann sich hier vielleicht an den Erfolgsfaktoren von Psychotherapien orientieren: Die Qualität der therapeutischen Bindung und das Ausmaß sozialer Unterstützung allein machen rund siebzig Prozent des Therapieerfolges aus. Gegenüber fünfzehn Prozent, die der korrekten Methodik zugeschrieben werden (Hänseroth, 2022a, S. 2). Das, was hilft, ist ganz im Sinne des personenzentrierten Therapieansatzes die Erfahrung von Kongruenz, Wertschätzung, Akzeptanz und Empathie in einem wohlwollenden Gegenüber (Hänseroth, 2022f, S. 16). Vom Hoff (2023) formuliert dies auf prägnante Weise so: „Es ist eine der heilsamsten und hilfreichsten Erfahrungen, wenn ein Mensch erleben kann, dass jemand anderes versucht, für einen Moment zu verstehen, was es heißt, „ich“ zu sein (vom Hoff, 2023, S. 27–28).
4.4 Sinnerleben
Während Jean Paul Sartre die Auffassung vertrat, dass es den Sinn des Lebens an sich nicht gäbe, sondern jeder Mensch in seinem Leben durch sein Handeln einen Sinn kreiere (Leu, 2021, S. 152), so ging Viktor Frankl davon aus, dass es im Leben darum ginge und selbst in ausgesprochen schwerem Leiden (er nahm hier das Beispiel von einem nicht mehr operierbaren Krebs) auch möglich wäre, den – objektiv vorhanden – Sinn für sich zu finden, zu erkennen, zu erfüllen und daran zu wachsen (Leu, 2021, S. 155). Dieser Sinn zielt laut Frankl auf das „Wohlergehen eines größeren Ganzen“. Transsubjektiv, doch erkennbar für den Menschen nur im konkreten Augenblick (Ahrendt et al., 2023, S. 82). Die Ausrichtung auf Sinn und Werte ist wesentlich für die Resilienz eines Menschen (Reichhart & Pusch, S. 30). Und auch Petzold sah in der Anpassungsleistung des Selbst durch die Bewältigung von Krisen die Möglichkeit, eine neue Ich-Identität zu schaffen (Petzold, 2012, S. 340).
Beim Erzählen der eigenen Lebensgeschichte gibt man dieser eine Form. Sie wird konstruiert und rekonstruiert. Erlebtes wird eingeordnet, in einen Zusammenhang gestellt und erfährt dadurch einen Sinn (Schörmann, 2021, S. 60), der sich dem Urteil anderer entzieht. Durch die Zusammenschau von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (-smöglichkeiten) lässt sich Sinn auf eine ganz neue, umfassendere Art erkennen (Ahrendt et al., 2023, S. 84).
5 Traumasensibilität in der Biografiearbeit
„Biografiearbeiter/innen helfen beim Entdecken und Erkunden der Biografie, und schaffen Stabilität auf „schwankendem biografischen Boden“ (Hänseroth, 2022b, S. 6–7). Diese Worte beschreiben sehr gut das Erleben nach einer Tumordiagnose, während der Behandlung, in den Zeiten des Wartens auf Untersuchungs- und Laborergebnisse. Es zieht buchstäblich „den Boden unter den Füßen weg“.
5.1 Hintergrundwissen zum Traumageschehen
Traumatische – als existenziell bedrohlich erlebte Situationen – veranlassen unseren Körper dazu, das reflektierte Denken im präfrontalen Kortex im Gehirn zugunsten des instinktiven Handelns auszuschalten, um eine Notfallreaktion zu ermöglichen, die das Überleben sichert. Unter einer extrem hohen Ausschüttung von Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin macht sich der Mensch bereit, zu kämpfen. Führt dies nicht zur gewünschten Auflösung der bedrohlichen Situation, stellt sich das autonome Nervensystem auf die Flucht ein. Doch auch diese Reaktion ist in vielen Fällen nicht wirksam oder adäquat und so geht das Nervensystem zur nächsten Notfallreaktion über: Es distanziert sich innerlich gegenüber dem Geschehen – es erstarrt. Schließlich dissoziiert der Mensch. Das Erlebte wird fragmentiert, die einzelnen Informationen werden im emotionalen Gedächtnis ohne räumliche, zeitliche und lebensgeschichtliche Zuordnung gespeichert. Werden diese später durch Reize, die an das bedrohliche Geschehen erinnern, reaktiviert, erlebt der Mensch die mit der damaligen Gefahr einhergegangenen Emotionen wie Angst und Ohnmacht real im Hier und Jetzt und reagiert entsprechend (vom Hoff, 2023, S. 6–9).
5.2 Handlungsempfehlungen für Biografiearbeiter/innen
Traumafolgestörungen gehen mit einem Verlust des Sicherheitsgefühls einher (Wilke, 2025). Traumasensible Biografiearbeit achtet daher auf einen stabilen äußeren Rahmen, klare Absprachen, ein Umfeld, in dem sich die Klienten sowohl körperlich als auch psychisch sicher fühlen können. Zuverlässigkeit, Transparenz (vom Hoff, 2023, S. 33) und Verlässlichkeit der Biografiearbeiter/innen sind unverzichtbar und werden unter Umständen von den Klienten auch „getestet“. Dies gilt vor allem dann, wenn sie zusätzlich zu dem aktuellen belastenden Ereignis in der Vergangenheit sogenannte Man-Made-Traumata wie Gewalt, aber auch Vernachlässigung oder Verrat erleben mussten. Diese gehen mit einer tiefgreifenden Erschütterung des Vertrauens in ihre soziale Umwelt einher. Besonders bei Komplextraumatisierten muss damit gerechnet werden, dass ihnen der Aufbau der Beziehung, das Wahren fremder und eigener Grenzen sowie der Umgang mit Konflikten schwerfällt (Schröder, 2019c, S. 17–18).
Auch kann es dazu kommen, dass Betroffene ihre eigenen Traumata in der Interaktion mit den Biografiearbeiter/innen unbewusst zu reinszenieren versuchen und diese in eine Täter-, Mitwisser-, Retter- oder Opferrolle einzuladen. Basierend auf den im Körpergedächtnis gespeicherten Erfahrungen der traumatisierten Menschen werden hier unbewusste, zurückliegende, jedoch nicht verarbeitete Erlebnisse im Hier und Jetzt aktualisiert, auf die das autonome Nervensystem des Gegenübers reagiert. Je nachdem, in welche Rolle es eingeladen wurde, fühlt es sich hilflos, wie ein Opfer, aggressiv wie der Täter oder es hat das Bedürfnis, den Klienten zu retten. Wird das Geschehen nicht auf der Metaebene reflektiert, besteht die Gefahr, dass nun das ehemalige, traumatisierende Geschehen in der Interaktion zwischen Klient und Biografiearbeiter/in wiederholt wird. Hier sind die Biografiearbeiter/innen gefragt, empathisch aber auch konsequent Selbstfürsorge zu betreiben, sich abzugrenzen und aus der Dynamik auszusteigen (Schröder, 2020, S. 28). Derartige Dynamiken können von Biografieberater/innen besser erkannt werden, wenn sie ihre Aufmerksamkeit während des Prozesses immer wieder einmal sowohl auf ihre eigenen Reaktionen wie auch auf das Erleben der Klient/innen richten und beides vor dem Hintergrund ihres Fachwissens um Trauma und Traumareaktionen bewerten: Worum geht es in dieser Situation wirklich? Das ermöglicht es ihnen, auf die Erregung der Klient/innen ruhig und stabilisierend zu reagieren (vom Hoff, 2023, S. 26–27). Wichtigste Zielsetzung ist es, die Aufmerksamkeit der traumatisierten Person wieder zurück ins Hier und Jetzt zu lenken und ihr deutlich zu machen, dass in dieser Gegenwart keine Gefahr droht.
Hilfreich kann es sein, die Person aufzufordern, sich im Raum zu orientieren, sich auf ihre aktuelle Wahrnehmung der Umgebung zu fokussieren und diese zu beschreiben oder mathematische Aufgaben zu lösen. Auch Atemübungen oder das Berühren von Gegenständen, die angenehme haptische Reize auslösen, können geeignet sein, um die Aufmerksamkeit des Klienten oder der Klientin wieder in die räumliche und zeitliche Gegenwart zu lenken.
Der Sinn biografischer Arbeit besteht darin, in der Lebensrückschau zu finden, was die Betroffenen trägt, sie stärkt und stabilisiert (Hänseroth, 2022g, S. 26) sowie für die Zukunft eine positive Zielvision zu finden (Hänseroth, 2022g, S. 363). Im Zentrum jedoch steht immer der Klient mit seinen individuellen Fragestellungen und Haltungen, der sich auf seinen eigenen Lebensweg begibt. Biografiearbeiter/innen stets sind nur dialogische Begleiter (Schulz, 2008, S. 18–19). Traumatisierte Menschen haben häufig die Hoffnung auf eine gute Zukunft verloren und bewerten kleinere Rückschläge als umfassendes Scheitern (Schröder, 2019c, S. 44). Mit liebevollen Fragen kann der Klient darin unterstützt werden, dem Geschehenen einen Sinn zuzusprechen oder die wahrgenommene Sinnlosigkeit auszuhalten. Die Grundhaltung der Biografiearbeiter/in sollte jedoch, vor allem in Sinn und Glaubensfragen weitestgehend zurückhaltend sein und anerkennen, dass sie sich mit ihren Klienten gemeinsam auf einen Weg begeben haben, auf dem es nicht auf jede Frage eine Antwort gibt (Schröder, 2019b, S. 33). Leu (2021, S. 288) beschreibt es so: „Ich höre mit großer Präsenz und mit Mitgefühl zu, was mir erzählt wird; ich bagatellisiere nicht; ich biete keine Lösungen an. […] Ich bin eine Partnerin in dem Sinne, dass ich nicht gleich umkippe und selber Angst bekomme oder in Panik gerate.“
Schließlich sei zu erwähnen, dass auch der Kontakt mit belastendem biografischen Material, dem Biografiearbeiter/innen ausgesetzt werden, zu Traumatisierungen – sogenannten Sekundär- oder Tertiärtraumatisierungen führen kann. Im Sinne einer guten Selbstfürsorge ist es auch hier wichtig, dass diese ihre persönlichen Grenzen kennen, wahren und, sofern nötig, in das Gespräch steuernd oder beendend eingreifen. Sie sollten ihrerseits Methoden kennen, mit denen sie sich selbst stabilisieren und ihr Nervensystem beruhigen. Eine gute Selbstfürsorge der Biografiearbeiter/innen ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass sie selbst auch helfen können.
6 Fazit
Die Endlichkeit unseres Lebens ist ein Fakt. Dies anzuerkennen, ein lebenslanger Prozess (Leu, 2021, S. 13). Doch unsere Verletzlichkeit, unsere Endlichkeit zwingt uns mit Dringlichkeit dazu, das Leben nicht länger zu vertagen (Leu, 2021, S. 43). In der bewussten Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensweg – die anlässlich der Krebsdiagnose vielleicht zum ersten Mal im Leben überhaupt stattfindet – liegt eine unschätzbare Chance: Sie trennt Spreu und Weizen, richtet das Augenmerk weg vom Banalen hin auf das Wesentliche (Leu, 2021, S. 116). Angesichts des Todes wird es ganz konkret: Was ist existenziell wichtig? Was ist wirklich wertvoll? (Leu, 2021, S. 124)
Biografiearbeit ermöglicht es den Betroffenen, auf diese Fragen ihre ganz persönlichen Antworten zu finden. Gespeist aus der individuellen Vergangenheit, bewusst erlebt in der Gegenwart und ausgerichtet auf eine Zukunft, die von nun an wissend, verantwortlich und selbstbestimmt der Realisierung des eigenen Lebenssinns gewidmet sein darf. Im Erzählen seiner Lebensgeschichte konstruiert sich der Mensch sich selbst als Subjekt im Austausch mit dem Anderen. Er tritt heraus aus dem passiven Erleiden oder fremdbestimmten Funktionieren. Er wird zum bewussten Verwirklicher seiner eigenen Lebensaufgabe: Im jeweils gegebenen Augenblick, unter den jeweils gegebenen Umständen, in der konkreten Situation tut und entscheidet er das ihm Bestmögliche (Ahrendt et al., 2023, S. 53). Diese daraus resultierende Selbstwirksamkeit ist unabhängig von Einschränkungen, die die Krebserkrankung eventuell mit sich gebracht hat. Sie entzieht sich dem Vergleich mit anderen Menschen und ist möglicherweise sogar losgelöst von der noch verbleibenden Lebensspanne.
Der Mensch wendet sich ab von der Frage „Was habe ich vom Leben noch zu erwarten?“ (Hänseroth, 2022e, S. 2). Die Frage, die sich stattdessen stellt, lautet: „Welche Aufgabe im Leben wartet auf mich?“ (Hänseroth, 2022e, S. 2) Mit einer auf Sinn und Werte ausgerichteten Grundhaltung führt die systemische Biografiearbeit das Gegenüber in eine Geisteshaltung von Freiheit und Verantwortung (Ahrendt et al., 2023, S. 53–54). Sie eröffnet ihm – vielleicht erstmalig, vielleicht auch gerade noch rechtzeitig – die größte und wichtigste Chance seines Lebens: es von nun an sinnhaft zu gestalten.
Deren Dimension wird deutlich, wenn man die Forschung von Erikson beachtet: „Menschen, die ihr Leben nicht als sinnhaft beschreiben können [verfallen] in eine Disposition der Verzweiflung und des Ekels […] auch bezogen auf sich selbst“, schreibt (Specht-Tomann, 2017, S. 3) und eröffnet damit einen Ausblick, der schaudern lässt.
Traumasensible, systemische, wertorientierte Biografiearbeit zeigt sich somit als von unschätzbarem Wert. Auch – aber nicht nur – für Menschen, die von einer Krebserkrankung betroffen sind.
Wer bin ich und was ist meine Aufgabe im Leben? Was ist ein lohnenswertes Leben?
Welches schwere Ereignis auch immer einen Menschen dazu bringt, sich diese Fragen zu stellen: Zumindest in dieser Hinsicht erfüllte es einen Sinn.
Und so könnte es sein, dass Viktor Frankl – auch hier – Recht behalten hat:
Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.
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Hänseroth, S. (2022e). Therapieströmungen: Einführung in die Logotherapie und Existenzanalyse. Isolde Richter Heilpraktiker- und Therapeutenschule.
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Autorin: Frances Dahlenburg, Wesel, Deutschland, 26.03.2025
Als PDF abrufbar auf Researchgate: https://www.researchgate.net/publication/390207890_Traumasensible_systemische_Biografiearbeit_mit_Krebspatientinnen
DOI: 10.5281/zenodo.15091423