Frances 2025

Gott, Schuldgefühle und Umbrüche waren die Themen meines Septembers 2025. Ich weiß nicht, ob ich diesen Monat in der Rückschau jetzt total faszinierend finde oder ihn einfach nur hasse. Er war auf jeden Fall ein Wahnsinnsgeschenk. Bevor ich es auspacke, muss ich allerdings noch ein bisschen ausholen. Überspringt das Intro bitte nicht – es zahlt sich am Ende aus.

Was ist von Wert, wenn die Zeit abläuft?

Alles beginnt mit der Frage, was man wohl täte, wenn man noch ein Jahr zu leben hätte? Solche Fragen werden gern in Seminaren gestellt. Sie sollen einen neuen Blick auf das Leben anstoßen. Vielleicht eine tiefgreifende Veränderung. Und oft mobilisieren sie tatsächlich ungeahnte Kreativität und Fokus auf das Wesentliche. Doch … was ist denn das Wesentliche eigentlich?

Vor einem Jahr stellte ich mir genau diese Frage. Ob ich noch ein Jahr zu leben hätte, ein paar Wochen nur oder noch mehrere Jahrzehnte, das war ungewiss. Was allerdings nach nur einer wirklich schweren Nacht ganz sicher war: Mein persönlicher Sinn des Lebens besteht weder darin, auf den Mond zu fliegen oder den Nobelpreis zu erhalten, noch darin, es noch mal richtig krachen zu lassen. Ein Sonnenaufgang am Meer mit nackten Füßen auf nassem Sand. Und einen Hund streicheln. Das war die Essenz dessen, was ich für lebenswert halte. Und ich schwor mir in jener Nacht, meine Zeit nur noch sinnvollen, wirklich wertvollen Dingen zu widmen.

Am Morgen schlug ich die Bibel auf und meine Augen fielen auf einen Text, der mich seither begleitet: Epheser 5,13-14.

„Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht aufgedeckt wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“

So schnell ging es allerdings damals nicht mit dem Aufstehen. Und so war dieses letzte Jahr geprägt von radikalen Umbrüchen: Ich warf einen Großteil meines ehemaligen Freundeskreises aus meinem Leben, verbrachte eine Zeit lang mit schweren Depressionen. Stephan und ich stellten unsere Ehe auf ein vollkommen neues Fundament und schließlich musste der alte, evangelikale dualistische Höllenglaube – nun – dran glauben.

Farben und Formen aus Pastellkreiden auf dunklem DIN A4 Papier. Zeichnend, textend und mit Kampfsport befreite Frances sich im September 2025 aus Manipulation durch Schuldgefühle, löste toxische Bindungen und rekonstruierte ihr Gottesbild. Die Farben und Formen machen unbewusste Bewegungen und Zustände sichtbar. Dadurch, dass sie anschließend verbalisiert werden, werden sie ins Bewusstsein geholt und können dort transformiert werden. Die Malprozesse von Frances führten zu nachhaltigen Verbesserungen ihrer seelischen Stabilität. Dieses Bild ist ein Teil der Malprozesse und Titelbild des Beitrags.
Pastellkreide auf schwarzem DIN A4 Papier. Durch das intuitive Malen zeigen sich unbewusste Vorgänge auf dem Papier. Sie können bewusst gemacht und transformiert werden.

Worin liegt der Sinn, wenn das Leben Jenga spielt?

Im Frühjahr gingen zwei Webprojekte online:

  • sinn-und-werte.com – Texte über geerdete Spiritualität, Sinn und Alltagsfreude, aber auch über Gewalt und Traumata und unsere Möglichkeiten, uns dagegen zu verteidigen.
  • ersatzkinder.de – eine Plattform für Menschen, die wie ich als „Ersatzkind“ geboren wurden und mit einer ganzen Batterie an transgenerationalen Lasten aufwachsen. Schuld- und ein übergroßes Verantwortungsgefühl sind zwei davon.

In Argentinien sprechen wir nicht von Fußabdrücken, die wir hinterlassen, sondern „von unserem Körnchen Sand“. Die Artikel auf diesen Seiten, das sind die von Stephan und von mir.

Schon im Artikel „Krebs macht keinen Sinn – er macht ihn bewusst“, schildere ich meine Auseinandersetzung mit einem Gottesbild, das viel zu oft als Keule missbraucht wird. Mein Bemühen, mir immer wieder das freundliche Original zurückzuerobern. Gegen jede religiöse oder anderweitige Instrumentalisierung.

Und im Beitrag “Die Brust ist weg – der Maulkorb auch”  erzähle ich davon, wieso ich nur noch Klartext schreibe. Denn der Weichspülgang nutzt nur den Tätern.

Traumafachberatung, Traumapädagogik, systemische Biografiearbeit und Trauerbegleitung, als ich wieder zu Hause war und am Rechner sitzen konnte, machte ich einen Abschluss nach dem anderen. Denn ich finde, wenn ich schon schreibe, dann möchte ich auch wissen, worüber. Wie wichtig das ist, das hat sich nun in diesem Monat deutlich gezeigt.

Aber eins nach dem anderen, denn hier geht es ja um den September 2025. Einen Monat, der absolut fantastisch war. Und auf den ich auf der anderen Seite wahnsinnig gern verzichtet hätte. Und genau diese Seite warf ihre Schatten schon drei Tage zuvor voraus.

Stiefmütterchen in einer Steinspalte auf dem Gehweg. Aufgenommen im September 2025. Farbe Lila und Gelb. Es ist ein Zeichen für Resilienz und Durchsetzungskraft des Lebens

Schuldgefühle – die Tretmine in der WhatsApp-Nachricht

Ende August meldet sich auf einmal eine Frau bei mir, die ich einmal in einem längeren Blogartikel in einem halben Satz erwähnt hatte. Nach anfänglichen Komplimenten zu meiner Arbeit wirft sie mir vor, ich hätte Dinge über ihr Privatleben verbreitet, die sie niemals öffentlich äußern würde. Mir wird heiß und kalt: Solange ein Fakt nicht von zwei unabhängigen Quellen bestätigt wird, veröffentliche ich nicht. Nie. Niemals. Und nun soll mir das ausgerechnet bei so sensiblen Daten passiert sein?

Während ich hektisch dabei bin, den fraglichen Artikel ausfindig zu machen und ihn sofort zu korrigieren, sende ich ihr sieben Sprachnachrichten, in denen ich mich entschuldige und mülleimerweise Asche auf mein Haupt streue.

Au weia, wie unprofessionell. Ich verstehe echt nicht, wie das passieren konnte. Und dabei war ich doch sicher, dass ich das gelesen hätte? Sorry, sorry, sorry …

Wären diese Daten tatsächlich, wie von ihr behauptet, niemals zuvor öffentlich gemacht worden, hätte ich mit einer Abmahnung und vielleicht sogar Schadensersatzforderungen rechnen müssen.  

Statt im Oktober in Argentinien den Sonnenaufgang am Atlantik zu genießen, den nassen Sand unter meinen Füßen zu spüren und meine Nase in ein warmes, weiches Hundefell zu graben, sehe ich mich schon in Deutschland einen Rechtsstreit durchfechten.

Abgesehen davon stelle ich mich sofort in ihre Schuhe. Wie würde ich mich fühlen? Es tut mir so leid. Innerhalb von Minuten ist der Text gelöscht. Das Schuldgefühl bleibt.

Blick auf Bodensee und Alpen vor einem abendlichen Himmel. Blauer Himmel mit rosafarbenen Wolken. Grüne Wiesenlandschaft. Im Hintergrund die Berge. Eine Reise von Stephan und Frances im September 2025.
Blick auf Bodensee und Alpen am Abend

Zu wenig Spannung? Das Leben spielt die Zeit-Karte

Kurz danach erfahre ich, dass bei meiner Freundin die Metastasen wieder gewachsen sind. Zeit! So wertvoll!!! Ich gehe spazieren, will die letzten Sommertage auskosten.

Währenddessen vibriert das Handy erneut. Die Dame fühle sich schlecht wegen der Veröffentlichung, möchte mit mir noch mal erörtern, wie es dazu überhaupt kam.

Ich fühle mich auch schlecht. Kann mir beim besten Willen nicht erklären, wie es zu einer solchen Verwechslung kommen konnte. Entschuldige mich noch einmal. Versichere, dass der Text gelöscht ist. Frage, was ich noch tun könne …

In den Folgetagen erfahre ich es: Sie möchte über ihre Empfindungen sprechen und ich solle anerkennen, das ich sie verletzt habe.

Das tue ich. Aber ich kann es doch nicht mehr ändern? Während ich mir immer noch über die angeblich nichtexistenten Quellen das Hirn zermartere, kommen ihrerseits nun Vorwürfe und sich gegenseitig widersprechende Erwartungen an meinen Blog: Nein, deine Entschuldigungen interessieren mich nicht. Und deine Lösungen gefallen mir nicht. Offensichtlich verstehst du mich nicht, es geht darum, was war.

Nein, ich verstehe sie nicht. Und mich selbst auch nicht mehr. Immer wieder versuche ich, den Kontakt zu beenden. Das Schuldgefühl hält mich jedoch in der Schleife aus Wiedergutmachungsversuchen gefangen. Ich erkläre, bitte um Verzeihung, erkläre wieder. Und suche nach dem fehlenden Puzzleteil in meiner Erinnerung.

„Wenn du ihr noch einmal antwortest, dann nehme ich dir das Handy weg.“ Stephan meint es ernst. Vor einem Jahr hatte ich mich in falschen Annahmen über Schuld und Alles-wieder-gut-machen-Müssen so sehr verrattert, dass danach nicht nur meine Gesundheit sonder auch unsere Ehe wieder aufgepäppelt werden musste. Er weiß auch, dass ich immer viel zu schnell, viel zu viel Verantwortung übernehme. Menschen die auf Macht aus sind, nehmen das gern in Anspruch.

Und das zeichnet sich auch in diesem Gesprächsverlauf wieder ab. Gerade kommt die nächste Forderung, doch dann entschließe ich mich, all das zur Seite zu schieben und das Open-Air-Konzert von Sophia zu genießen. Es ist das erste Konzert, das wir besuchen, bei dem es stellenweise schüttet. Der Herbst kündigt sich an.

Doch kurz danach mache ich den Kanal wieder auf und versuche, eine befriedigende Lösung zu finden. Ich mache drei Angebote, um den vermeintlichen Schaden wiedergutzumachen. Und beiße auf Granit.

Statt mich um den Restsommer, meine eigene Angst und um die um meine Freundin, die offenen Rechnungen und Reisevorbereitungen zu kümmern, suche ich nach Auswegen. Irgendwann fühlt es sich so an, als hinge von diesem einen verdammten Halbsatz mein Leben ab. Ganz klar: Hier liegen jetzt auch meine Themen offen auf dem Tisch.

Bühnenszene im blauen Licht mit der Sängerin Sophia am kurz vor dem Beginn des Septembers 2025, Frances war bereits mit Vorwürfen belastet, die ihr Schuldgefühle machten.
Sophia beim Konzert in Dinslaken

Wenn Gott missbraucht wird – Lektionen aus Zürich

Kurze Entspannung gibt es auf einer Reise, die Stephan und ich am Wochenende unternehmen. Über Heidelberg, Donaueschingen geht es nach einem beeindruckenden Blick zu Alpen und Bodensee mit einem kurzen Zwischenstopp, um die Mondfinsternis zu bewundern, nach Zürich zur Paulus-Akademie.

Hier zeigen Theologen und Psychologen, wie spirituelle Autorität das Bild von einem guten, liebevollen und gleichzeitig gerechten Gott missbraucht. Und wie man sie zurück auf die Füße stellt. Vier Vorträge rahmen das Thema „Grenzen des Heiligen – Spiritueller Missbrauch und die Verantwortung religiöser Autoritäten“:

Judith Könemann stellt in Wenn Gehorsam der Herrschaft dient – Spiritueller Missbrauch als eigenständige Kategorie“ klar: Geistlicher Missbrauch ist nicht bloß „sexueller Missbrauch light“, sondern ein eigenes, klar zu benennendes Vergehen gegen das Vertrauen und die spirituelle Selbstbestimmung der Gläubigen.

Elis Eichener fragt in Zwischen Begleitung und Übergriff – Spirituelle Integrität in der Seelsorge“: Wo endet Fürsorge, wo beginnt Kontrolle? Mit Foucaults Pastoralmacht im Gepäck zeigt sie, wie Seelsorge in Missbrauch kippen kann, wenn der Mensch selbst nicht mehr gesehen wird.

Susanne Schaaf berichtet aus der Beratungs­praxis („Zwischen Verbundenheit und Distanz“): Opfer spirituellen Missbrauchs kommen mit zerstörtem Selbstbild und angstgetränktem Gottesbild. Hilfe gelingt nur, wenn Berater:innen empathisch sind und sich klar gegen die Handlungen der Täter stellen.

Und schließlich spricht Reiner Anselm über „Macht, Verantwortung und Spiritualität – Zum Missbrauch des Heiligen in evangelischen Kontexten“ und zeigt drei typische Verschiebungen: Wie sich Täter Gott bedienen, um über ihr Amt oder über ihre vermeintlichen Gaben Missbrauch zu legitimieren. Wie Opfer geschwächt werden, wenn sie zur Vergebung gezwungen werden. Und wie schwer die Aufarbeitung von daraus resultierenden Traumata gemacht wird, wenn Vertrauen über das gesunde Gerechtigkeitsgefühl gestellt wird.

All diese Vorträge waren, wie ich heute sehe, fast eine Vorausahnung dessen, was am Ende des Monats mit mir selbst geschehen würde. Ein Präludium für diese kraftvolle September-Symphonie aus Schuldgefühlen, Rebellion, Glaubenszweifeln, harten zwischenmenschlichen und inneren Auseinandersetzungen, rotzigen Blogartikeln, kräftigen Schlägen in Sandsäcke und schließlich einem lauten, befreienden Schlussakkord.

Landschaftsszene: Blick von der Heidelberger Burg über die Stadt zum Neckar. Im Zentrum die Kirche. Ein Urlaubsfoto von Stephan und Frances auf dem Weg nach Zürich zum Kongress gegen geistlichen Missbrauch
Blick über Heidelberg auf den Neckar

Ein glückliches Lebensende: Wie viel davon liegt in unserer Hand?

Doch erst einmal fahren Stephan und ich zurück nach Wesel. Wir freuen uns so sehr über wunderbare Begegnungen:

  • Gespräche mit einem älteren obdachlosen englischen Sprachlehrer in der Heidelberger Fußgängerzone, der durch den Brexit zwischen die Fronten geraten ist: Weder in Großbritannien noch in Deutschland findet er noch eine Heimat, in der er wirklich anerkannt ist.
  • Einen Besuch bei einer Bekannten aus Stephans Jugendzeit, einer pensionierten Französischlehrerin und ihrer Tochter, die gemeinsam noch immer im Wohnmobil die Welt bereisen, und mit denen wir binnen Minuten in einen sehr ehrlichen Austausch über Tod, Trauer, Verlust und Krankheit gehen. Und über die Lebensfreude im Kleinen.
  • Ein Zusammentreffen mit einem weiteren beeindruckenden Herrn, der in Großbritannien, Syrien und anderen Ländern Hotels betrieb, später ein Vier-Sterne-Hotel in Bautzen in ein Asylbewerberheim verwandelte und nun sein drittes Lebensalter beschaulich in seiner alten Heimat an der Donauquelle verbringt.

Und ganz besonders freuen wir uns, auf dem Kongress in Zürich Uwe kennengelernt zu haben. Er betreibt den Podcast „Hausverbot im Beichtstuhl“, in dem er sich gegen geistlichen Missbrauch einsetzt.

Uwe war der Mensch, der uns auf Martin Thoms aufmerksam gemacht hat: einen jungen Theologen, der in seinem Buch „Es ist vollbracht – oder doch nicht?“ eine Sicht auf Gott vermittelt, die endlich, endlich Sinn macht:  Er versteht Gottes Gericht als heilende Durchgangsstation, an deren Ende dank Christi Versöhnungswerk wirklich alle Geschöpfe, ohne billige Preisgabe von Verantwortung zur endgültigen Gemeinschaft mit Gott zurückgeführt werden.

Landschaft mit kleinem Gartenhaus und Fluss in Donaueschingen. Zwischenstopp auf dem Weg zum Kongress in Zürich über Gott, Gewalt und Schuldgefühle der Opfer mit ihren Traumata.
Historischer Pavillon in Donaueschingen

Kompromisslos liebend und kompromisslos gerecht: Der gute Gott des Martin Thoms

Als wir Martin Thoms lasen und persönlich erlebten, verstanden Stephan und ich: Das ist eine Lesart der Bibel, die in sich völlig kohärent ist.

  • Keine Widersprüche,
  • kein Double-bind
  • kein: Gott liebt dich und deswegen muss er dich leider ewig in der Hölle brennen lassen.

Kein: Gott liebt Christen und darum ist es ihm vollkommen gleichgültig, welche Verbrechen sie im Kleinen oder im Großen begangen haben, sie werden einfach ins Paradies durchgewunken. Und auch kein: Gott liebt nur Christen und deswegen werden die Engel, die mir das Leben gerettet haben, Dr. med. (RO) Akbar Ferdosi, Dr. med. Gülcan Ak und Dr. med. Gloria Benzane-Frenkel im Brustzentrum Marien-Hospital Wesel, nun eventuell durch das Raster fallen, während die Christen, die dich zum Teufel gewünscht haben, fröhlich Himmelsparty feiern.

Thoms verbindet gesunden Menschenverstand, göttliche Liebe und Gerechtigkeit und klare theologische Auslegung zu einem Ganzen, das endlich einen Gott zeigt, dem man voll und ganz vertrauen kann.

Ja, und genau diesen Uwe treffen wir in Zürich wieder. Wir kannten uns bislang nur von Social Media, und bevor wir uns umarmen, jubele ich so laut, dass eine ältere Dame am Nachbartisch mich sofort streng zurechtweist. Nein, sind die steif hier in der Schweiz, denke ich noch. Doch später erzählt sie mir, dass sie neue Hörgeräte hat und diese gerade auf volle Lautstärke gestellt hatte, als ich – wieder mal ohne Filter – laut Uwes Namen brüllte.

Wir sind erfüllt bis an den Rand, als wir zurückfahren.

Gartenlandschaft in Donaueschingen, blauer Himmel mit hellen Wolken, ein großer See und am Ufer üppige Bäume.
Parkanlage in Donaueschingen

Klarheit um jeden Preis: Für Diplomatie fehlt mir die Zeit

Und doch rätsele ich auf der langen Fahrt immer wieder, weshalb mir mein Gedächtnis im Bezug auf diesen Blogartikel einen solchen Streich gespielt haben soll. Ich spiele juristische Folgen durch, mögliche Verteidigungslinien gegenüber einer Abmahnung oder Klage. Und immer wieder stelle ich mir die Frage: Wenn es sie so sehr verletzt hat, diese Informationen öffentlich zu sehen, wie kann ich dann davon wissen?

Während wir in Donaueschingen noch einmal zu abend essen, scrollen wir fröhlich durch unsere Timelines. Wir haben stundenlang im Auto nebeneinandergesesessen und über Gott und die Welt philosophiert, nun tauchen wir mal in die Banalitäten von Social Media ab. Promt nähert sich ein Mann unserem Tisch: Eine Frage: Warum wir uns denn nicht unterhalten würden?

Ich habe den Mund gerade frei: „Das geht Sie ja wohl überhaupt nichts an.“ Stephan schaut verdutzt. Ich auch. Kenne ich so von mir jetzt nicht. Stephan auch nicht. Wir prusten los. Wie war das mit dem fehlenden Filter?

Am Tag der Rückkehr nehme ich mir ihr noch einmal die Publikationen der Beschwerdeführerin vor und lese sie ganz genau. Nach zwei Dritteln werde ich fündig. Mensch, da steht es doch, schwarz auf weiß. Dann recherchiere ich noch einmal in ihren Interviews, gehe ins Archiv eines bekannten Senders. Ich finde mein Zitat bestätigt. Und zwar Wort für Wort!

„Du hast das selbst veröffentlicht und veranlasst, dass ich mich hunderttausendmal bei dir entschuldige. Was wolltest du eigentlich wirklich von mir???“, schreibe ich ihr noch. Als keine Antwort mehr kommt, blockiere ich sie. Besser ist das. Mein fehlender Filter und so …

Schuldgefühle – meine Schwachstelle unter dem Brennglas

Ein Thema ist geklärt, doch ein anderes zeigt sich übergroß. Von wegen, ich sei nicht mehr manipulierbar!

Mein Rücken brennt wie Feuer genau zwischen den Schulterblättern, als hätte mich dort ein Schuss getroffen. Ich denke an Siegfried von Xanten und an das Lindenblatt, das ihn genau dort verletzbar machte.

Die kurze Episode bringt meine schwächste Stelle unbarmherzig auf den Tisch: Schuldgefühle.

Was für ein Thema, um darüber zu schreiben! Im September 2025 veröffentliche ich insgesamt sechs Blogartikel über Schuldgefühle und die gemeine Masche, Menschen darüber zu manipulieren. Ich schreibe über Gaslighting, Double-bind-Fallen, verschobene Zielpfosten und Entschuldigungen, die niemals reichen.

Und über die eine wichtige Aussage, die wir immer auf dem Schirm haben sollten: Wenn jemand eine Lösung nach der anderen sabotiert, dann ging es höchstwahrscheinlich niemals um das Problem.

Währenddessen greife ich zu dunklem Papier und Pastellkreiden, Block und Kugelschreiber. Keine Skizze, kein Plan, nur das Gefühl, das Chaos in mir zur Ruhe bringen zu müssen. Ich greife zum dunkelblauen Stift und ziehe eine Wellenlinie von links nach rechts. Ein einzelner Ausschlag schießt über den Blattrand, dann fällt die Linie ab und läuft als Schlussstrich zurück – als wolle sie das Chaos gleich wieder beenden.

Ein Seelen-Feuer in Pastellkreide

Doch Ruhe kommt nicht. Gelbe, eng getaktete Zickzacks krachen in die obere Ecke. Lila Formen überziehen die Mitte – „Interferenzen“ notiere ich. Schließlich packt mich Wut: Rote, runde, zackige Flammen jagen über das ganze Blatt, bis kaum Schwarz übrig bleibt. Dann ein Gedanke wie ein Tritt in die Bremsen: Stopp!

Ich starre auf dieses brennende Feld und spüre die Panik der letzten Tage, aber auch Erkenntnis. Ein Satz springt hoch: „Dein Leid gehört nicht mir.“  Es ist adressiert an das wirre rote Durcheinander, das für alles steht: die aggressive Opfermasche, die Schuldzuweisungen, die Panik und den Störsender im Kopf. Sobald der Satz geschrieben ist, wird es still.

Jetzt setze ich kleine, hellgrüne Inseln in das Rot. Jede Insel braucht ein wenig Mut, fühlt sich fast unmoralisch an: ein paar enge Zickzack-Striche, ein Atemzug Pause – fünfmal hintereinander. Ich denke: „Ich suche meine Inseln, auf denen etwas wachsen kann, und überschreibe dich damit.“

Am Rand erkenne ich plötzlich eine Figur in den roten Linien – eine Frau, die aufsteigt. „Aus deinem Feuer steige ich empor“, schreibe ich und ziehe drei diagonale Fundament-Balken unter sie. Dann folgen orangefarbene Kreise, spiralförmig wie neue Blüten. Der finale Strich lautet: „Und du bist Vergangenheit! Ich unterstreiche doppelt.

In Farben und Formen verlieren Schuldgefühle plötzlich ihre Macht

Ich sitze da, erschöpft, aber ruhig. Das Bild hat wirklich nichts Schönes, doch es zeigt alles Wichtige:

  • Es macht das Gefühlschaos sichtbar: Lügen, Verdrehungen, unlösbare Aufträge. Mein Nervensystem zeigt die Überforderung.
  • Was im Alltag noch verboten ist, darf auf dem Papier zutage treten: Verwirrung und Panik, aber auch die Wut darüber, wenn mir ein anderer Mensch aufträgt, seine Gefühle zu regulieren.
  • Eigene sichere Inseln schaffen Halt und fühlen sich zugleich unmoralisch an. Unmoralisch!!!!
  • Das Ausbrechen aus dem fremden Gefühlschaos ins eigene Leben. Nicht zufällig unterschreibe ich viele Blogartikel mit diesem Satz: Du bist erwachsen. Die Gefahr ist vorbei.

An diesem Abend spüre ich sie so deutlich, die Kraft des Feuers, mit dem ich meine Grenzen schützen kann. Und auch das Verbot, das darübergelegt wurde.

An den folgenden Tagen nehme ich mir jeweils Zeit für einen Malprozess. Jeder beginnt mit einer Fragestellung und endet mit einer neuen Erkenntnis:

  • Mich zu kontrollieren steht niemandem zu.
  • Ich muss mich mit mir selbst versöhnen, anstatt die Gefühle anderer Menschen zu reparieren. Letzteres wäre nur Selbstverrat.
  • Und wenn dann die altbekannte ätzende Stimme auftaucht, die meint, das wäre egoistisch von mir: Der Vorwurf, zu egoistisch zu sein, ist fast immer funktional: Meine Grenze stört jene, die davon profitierten, dass ich keine hatte.
  • Ich kann schmerzhafte Ereignisse aus der Vergangenheit ansehen oder auch den Vorhang zuziehen, wann immer ich das möchte. Das ist meine Selbstwirksamkeit.
Pastellkreidenlinien, vorwiegend diagonal rosa und gelb auf dunklem Papier, dazwischen kreisförmige Elemente. Teil des Kunsttherapieprozesses im Selbstverfahren, mit dem sich Frances im September 2025 aus toxischen Bindungen löste.

Ich wünsche mir Unendlichkeit – doch nur, wenn da Liebe ist

Am Wochenende treffe ich meine Freundin Jorgelina aus Argentinien. Ich hatte ihr damals geholfen, Deutsch zu lernen, um die Staatsbürgerschaft in Deutschland zu beantragen. Wie mich hat sie die Liebe zu einem Mann aus Argentinien hierher gezogen. Sie überreicht mir Sonnenblumen und weint vor Freude, als wir uns umarmen. Wir schauen auf den Rhein und erinnern uns an Buenos Aires. Jorgelina zeigt mir Bilder von unserem Ausflug auf einen Folklore-Markt in La Matanza. Zehn Jahre ist es her, doch sofort höre ich wieder die Musik, das Klappern der Pferdehufe und der Boleadoras. Sehe die Frauen ihr Tuch schwenken, während sie tanzen.

Jorgelinas Mann Peter und mein Mann Stephan kämpfen währenddessen schmunzelnd um die Position des intellektuellen Alpha-Männchens.

Wenn ich Jorgelina sehe, spielt die Zeit keine Rolle. Auch nicht die Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben. Was ist Zeit, wenn man von Herzen verbunden ist? Ich spüre das wieder und verstehe auch wieder, warum ich damals in Argentinien hängen geblieben bin. Beziehung. Sonne, ein warmes Hundefell und Umarmungen. Das war es wert, alles aufzugeben.

An Tagen wie diesen
Wünscht man sich Unendlichkeit
An Tagen wie diesen
Haben wir noch ewig Zeit
Wünsch‘ ich mir Unendlichkeit

Die Toten Hosen
Stephan liest das Gilgamesch-Epos im Wasserturm in Wesel und zeigt den Besuchern geschichtliche Hintergründe. Drei Menschen in einem hellen Raum mit einem Tisch, auf dem Bücher liegen.
Stephan erklärt historische und archäologische Hintergründe zum Gilgamesch-Epos bei einer Lesung in Wesel.

Schuldgefühle: Sinn um jeden Preis?

Nun bin ich in Deutschland. Im Land der Dichter und Denker. Das ist auch schön, denke ich. Denken. Und verstehen.

Ich muss die Dinge verstehen, bevor ich sie gedanklich zu den Akten legen kann. Gaslighting verdreht die Wahrnehmung, im Double-bind weiß nicht mehr, in welche Richtung ich schießen soll, immer wieder verschobene Zielpfosten lassen bis zur Erschöpfung einem Frieden nachrennen, den man niemals verspüren soll. Ich will verstehen, sie müssen irgendeinen Sinn ergeben, damit ich die Sachen abhaken kann.

Ich schreibe und lese, was das Zeug hält. Wir geben zwei öffentliche Lesungen über das Gilgamesch-Epos, direkt unter den Gemälden der aktuellen Ausstellung in Wesel: Portraits. Gesichter in allen Farben und Formen. Jedes davon erzählt eine Geschichte über das Leben. Nicht alle sind leicht zu ertragen. Wie viel Sinn macht eine Suche nach Unsterblichkeit?

In meinen vier Wänden hingegen verschlinge ich Frankl und Fromm. Verschiedene Autobiografien. Und dann stoße ich auf einmal auf einen Satz, der es in sich hat. Er geht fast unter in den langen Schilderungen, doch ich stolpere darüber und lasse ihn mir auf der Zunge zergehen: Auch hier geht es um Schuldgefühle. Und um häusliche emotionale Gewalt bis zur physischen Erschöpfung des Opfers.

Da geht mein Vorhang wieder auf: Ich versetze mich in die Situation dieses alten Menschen: Er hat Einschränkungen, leidet darunter, ihm wird Hilfe verweigert und dann wird wieder so mit seiner Psyche gespielt, dass der Körper kollabiert. Ich bin noch dünnhäutig und stehe augenblicklich in seiner Situation. Was muss an seelischer Gewalt geschehen, bis ein Mensch physisch zusammenbricht? Ich spüre ein Ziehen in der operierten Brust, denke an die Vorfälle im Krankenhaus vor einem Jahr.

Wie viel Gewalt passt in einen Satz?

Wenn Gefahr droht, schlägt das Nervensystem Alarm und fährt den Körper hoch: Der Blutdruck steigt, die Muskeln spannen sich an, unsere Sinne werden geschärft, so dass wir kämpfen und den Angriff abwehren können. Damals versuchten wir vielleicht, die Schlange mit bloßen Händen zu erwürgen, heute diskutieren wir mit ihr.

Funktioniert das nicht, versuchen wir, der Situation zu entkommen: Wir klettern aus der Schlangengrube oder gehen aus dem Raum. Packen unsere Koffer und reichen die Scheidung ein. Doch was, wenn auch der Fluchtweg versperrt ist?

Im Kampfsport geben wir dann auf. Schlagen auf die Matte. Im Krieg hissen wir die weiße Fahne und ergeben uns. Dann aufzuhören, ist unter Menschen zivilisierter Kulturen weitestgehend Konsens. Alles andere geht gegen die Menschenwürde.

Doch was machen wir, wenn all das dem Gegenüber egal ist? Dann versucht unser Körper, sich vor Schmerz zu schützen und Kraft zu sparen, bis sich eine Gelegenheit bietet, in der wir die Situation wieder unter Kontrolle bringen können: Die Maus im Katzenmaul erstarrt.

Ein Opfer, das der häuslichen Gewalt nicht entgehen kann, dissoziiert, spaltet die Gefühle ab und funktioniert weitestgehend weiter. So lange vielleicht, bis es begreift, dass es gehen darf. Dass es nicht mehr darauf zu hoffen braucht, dass sich sein Peiniger ändert. Dass es selbst keine Schuld am Geschehen trägt. Und auch, dass ein Gott, der es gut mit ihm meint, ihm niemals das Gehen verbieten würde. Egal, was religiöse Institutionen dazu sagen.

Elder Abuse und Schuldgefühle: Das bittere Ende

Doch bis es dazu kommt, erlebt es schmerzhaft seine Handlungsunfähigkeit. Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Das Gefühl, es nicht mehr wert zu sein, mit Respekt und Wohlwollen behandelt zu werden. Das geht nicht spurlos vorbei. Was macht ein gebrechlicher Mensch, der auf Hilfe angewiesen ist, in so einer Situation? Der Gedanke daran schmerzt.

Dann denke ich weiter: In jedem Moment haben wir – vor allem wenn wir durch familiäre Gewalt in der Kindheit geprägt sind – die Hoffnung, uns in einer sozialen Situation doch noch dadurch zu retten, indem wir uns entschuldigen und – was auch immer uns vorgeworfen wird – wieder in Ordnung zu bringen.

Doch wer nicht an der Lösung, sondern an Macht interessiert ist, der wird uns das nicht erlauben. Sondern weiterbohren. Lass uns noch mal darüber reden, wie weh du mir getan hast. Fühlst du die Schuld, die Scham? Komm, fühle das!

Habe ich das nicht gerade erst erlebt? Den Nebel im Kopf, die verdrehten Forderungen, die Dauervorwürfe …, und ein Nervensystem am Limit, bis es bricht. Je größer das Schuldgefühl, je tiefer vielleicht auch die Sehnsucht, von dem Menschen, der da gerade quält, doch noch geliebt zu werden, desto schmerzhafter stelle ich es mir vor.

Menschen, die darauf angewiesen sind, den Schmerz im anderen zu sehen, die hören nicht auf, wenn das Gegenüber sich entschuldigt. Sich bis zur Selbstaufgabe anpasst. Und auch nicht dann, wenn der alte Mensch, das Kind, die Frau, der Partner, die Mutter oder der Vater dissoziiert und nicht mehr reagiert. Manche fangen dann gerade erst an.

Die Psyche ist noch gnädig, wenn es Menschen nicht mehr sind

Unsere Psyche schützt auch noch in dieser Situation und lässt uns dann das Geschehen wie durch eine Milchglasscheibe erleben. Es fühlt sich an, als geschehe es nicht mehr uns, sondern einem anderen.

So ungefähr habe ich mich gefühlt, als ich vor einem Jahr den Anruf des Mammografiezentrums erhalten hatte: „Die Tumorkonferenz hat getagt, gehen Sie bitte sofort ins Krankenhaus, die wissen schon Bescheid.“  Kurz schützte mich meine Seele noch vor dem Gefühl der Todesangst und gab mir die Luft, die ich brauchte, zumindest alles mir Mögliche zu tun, um die Lebensgefahr abzuwenden. Vermutlich war ich blass geworden, als mich die Nachricht erreichte: Der Blutdruck fällt ab.

Doch wenn auch das nicht mehr hilft? Kein Bitten, kein Weinen, kein Entschuldigen, kein Erklären? Wenn der Mensch begreift, dass er keine Handlungsoptionen mehr hat? Das ist der Moment, den wir als Kollaps, als Faint oder Shutdown bezeichnen. Dann erschlaffen die Muskeln, wir gehen buchstäblich in die Knie. Stürzen oder fallen in Ohnmacht.

Bis an den Rand der körperlichen Erschöpfung, denke ich … immer wieder … Ich könnte heulen. Im nächsten Absatz lese ich von einem Gott, der all das verzeihen wird. Und über ein Opfer, das das wohl schon verstanden haben wird, warum man ihm das antat. Diese Aussagen stammen von einer bekannten Person aus der psychotherapeutischen Fachwelt.

Ein Gott ohne Skrupel?

Mir wird schlecht. … Sieh, wozu du mich gebracht hast, … schießt es mir durch den Kopf. Ich müsste dich nicht so behandeln, wenn du mich nicht dazu zwingen würdest …

Und Gott wird es verzeihen … Auf wessen Seite steht dieser Gott dann?

Martin Thoms sagt doch, die Opfer würden Gerechtigkeit erfahren und die Täter zur Verantwortung gezogen? Und doch schleichen sich wieder Zweifel ein. Toxische Gottesbilder hinterlassen ihre Spuren in den Zellen.

Ich male wieder. Am Anfang fühle ich noch Dankbarkeit: Gott, du hast mich geheilt. Du hast mir eine neue Sicht auf das Leben gegeben. Neuen Sinn. Ich bin bei dir geborgen.

Im Laufe des Malens denke ich auf einmal an die Inquisition, an Hexenprozesse: Kann man wirklich bei dir geborgen sein? Wo warst du denn, als die Frauen brannten? Wo bist du heute, wenn sie von ihren Männern zusammengeschlagen und von ihren Angehörigen in den Kollaps gemobbt werden?

Ich ende mit dem Satz: „Raus aus meinem Herzen! Damit dort wieder Platz ist für die, die mich lieben!“

Am Abend gehe ich wie immer zum Kickboxtraining. Schlage in den Sandsack – eine Minute lang mit voller Kraft und Schnelligkeit, dann Liegestütze, dann wieder Schläge und Tritte in den Sandsack. Der Trainer heizt uns an. Ich habe genug Adrenalin im Blut.

Und dann ist da auf einmal der Gedanke: Auf wessen Seite stehst du, Gott? Von einem Moment auf den anderen habe ich das Gefühl, ohnmächtig einer Allmacht gegenüberzustehen, die es nicht gut mit mir meint. Die Metastasen meiner Freundin sind gewachsen. Ich bin erst seit einem Jahr krebsfrei. Was wird in den folgenden Jahren passieren?

Flammen in roter Pastellkreide auf schwarzem DINA4 Papier. Dieser Artikel handelt davon, wie ich den September 2025 damit verbrachte, mich selbst aus Schuldbindungen und alten Täterloyalitäten zu befreien und dabei auch mein Gottesbild rekonstruierte. Das Bild ist Teil mehrerer Malprozesse, in denen ich mir die Bewegungen meines Unbewussten anschaute und sie transformierte.

Ich kämpfe für meine Werte. Zur Not auch gegen Gott

Sofort schwindet die Kraft aus meinen Armen. Ich komme aus dem Liegestütz nicht mehr hoch. Kurz sage ich zu Stephan: Du, ich glaube, heute höre ich auf mit dem Training. Die Stunde halte ich im Leben nicht durch. Er schaut mich fragend an. Der Trainer kommt: Alles okay?

Okay. Ich mache weiter. Aufgeben war noch nie eine Option. Na gut, Gott! Wenn du mich schon fertigmachen willst, dann gehe ich zumindest nicht kampflos!

Und dann muss Stephan den Sandsack festhalten.

Auch am nächsten Tag erscheinen Flammen auf dem dunklen Papier: Du glaubst falsch, du hast das Abendmahl nicht in der richtigen Geisteshaltung genommen, du bist von Dämonen besessen, du bist des Teufels. „Gott ist ganz, ganz weit weg von Frances“ hatte eine – wie ich meinte – Freundin zu meinem Mann gesagt, noch während ich mich im Krankenhaus von der Operation erholte.

Damals, im Oktober 2024, war ich noch der Meinung gewesen, sie und die anderen doch tatsächlich um Vergebung bitten zu müssen, weil mich solche Sätze wütend gemacht hatten. In der schweren Depression, in die ich direkt am Anschluss gerauscht war, hatte ich viele Monate Zeit über mein Gottesbild, über Schuldgefühle, Vergebung und Selbstverrat und über die verrückte Idee, für alles und jeden verantwortlich zu sein, mal gründlich nachzudenken.

Farbige Pastellkreideflächen auf schwarzem DIN A4 Papier. Das Papier ist fast vollständig bedeckt und es gibt schwarze Linien, die alles unterbrechen. Teil des malenden Transformationsprozesses von Frances im September 2025

Es gibt keine Neutralität im Angesicht von Gewalt

Und nun war all das wieder mal Thema: „Hexen dürfen brennen, weil Gott es legitimiert?“, frage ich, während die Pastellkreide über das Papier gleitet. Dann ein trotziges: „Wenn mich schon Strafe erwartet, dann will ich wenigstens getan haben, was man mir vorwirft.“.  „Wie kann ich mich vor Gott schützen?“, frage ich wieder. Und krache in den Widerspruch: „Jesus hatte niemanden terrorisiert. Jesus hat an meinem Bett gestanden. Aber offiziell sieht Gott das anders? Mir laufen die Tränen. Es ist immer das Gleiche. Gott, man kann es dir nicht recht machen. Vielleicht ist Gott ja der Letzte, auf den man sich verlassen kann.“  

„Wisst ihr, wie Gott das sieht? Wenn ihr es nicht wisst, dann schreibt es einfach nicht. Mein Gott schützt die Hilflosen“, notiere ich.

„Aber ich bin laut Gott und ich bleibe es. Mit Liebe und Angst und Schmerz“, schreibe ich am nächsten Tag. „Bleib du bei deinen Frommen. Ich bleib bei meinem Mädchen.“

Rotzig und unfromm schreibe ich es. Und greife dann doch wieder zur Bibel. So wie mir Gott am Krankenbett mit Epheser 5,14 klarmachte, dass es noch lange nicht Zeit ist zu gehen, so gibt er mir jetzt vielleicht wieder einen Anhaltspunkt? Etwas, woran ich mich festhalten kann? Irgendwas?

Raum im Marienhospital Wesel, bunt dekoriert mit Herzkissen vor gelber Wand. Zum Brustkrebsinformationstag am 28. September 2025 konnte Frances die Frauen kennenlernen, die ihr Herzkissen genäht hatten, das sie bei der Genesung begleitete.

Die Schuld auf Gott schieben, um die Illusion zu schützen

Ich frage ihn: Gott, stehst du wirklich bei den Tätern? Und die Antwort hätte vielschichtiger und zugleich klarer nicht sein können. Ich schlage die Bibel blind auf und mein Finger liegt auf Markus 15:3-5.

„Und die Hohenpriester beschuldigten ihn hart. Pilatus aber fragte ihn abermals und sprach: Antwortest du nichts? Siehe, wie hart sie dich verklagen! Jesus aber antwortete nichts mehr, sodass sich Pilatus verwunderte.“

Ich schreibe eine kurze Mail an die Urheberin: „Gott ist manchmal nur eine Projektionsfläche. Und ich war doch tatsächlich bereit, ihm zuzuschreiben, er würde Sadismus legitimieren. Vielleicht weil es leichter zu ertragen ist als der Gedanke, dass Sie es tun.“

Und eine lange Mail an den Verlag. Ich schreibe über Traumareaktionen, über den psychischen Überlebenskampf in den eigenen vier Wänden. Über Elder Abuse und das versteckte Leid am Lebensende. Ich schreibe über das Gefühl, das Menschen ergreift, wenn sie von Gewalt lesen und noch mehr über das von Menschen, die häusliche Gewalt erlebt haben und nun lesen, dass sie die Täter verstehen müssten. Und noch einmal mehr über jene, die noch mittendrin stecken und mit solchen Aussagen konfrontiert werden. – Die Antwort steht noch aus.

Am 20. September 2025 nun stehe ich mit Stephan in Utrecht in einem Konzertsaal und höre Faun:

Denn in einer Welt, in der man Gold und Recht nicht trennt
In der man Mörder krönt und die Heilerin verbrennt
In einer Welt, in der aus Furcht ein Jeder sich versteckt
Wird es Zeit, dass man den Drachen erweckt.

Am Folgetag tauchen wir in Amsterdam tief ein in die Gedanken- und Erlebenswelt von Vincent van Gogh. Er schrieb einmal:

„Aber unwillkürlich neige ich immer dazu zu glauben, dass das beste Mittel, um Gott kennenzulernen, darin besteht, viel zu lieben.“

Vincent van Gogh
Das letzte Bild von Van Gogh im Goldrahmen vor grauer Wand. Abstrakte Formen, blau, gründ und rot dominieren vor gelbem Hintergrund. Aufgenommen im Van Gogh Museum in Amsterdam im September 2025
Das letzte Gemälde von Vincent van Gogh im der Ausstellung in Amsterdam

Wenn Licht und Schatten sich begegnen, wartet dahinter Gott

Am 23. September beginne ich mit Online-Seminaren bei Martin Thoms und Tara Brach. Bei Martin geht es im Kern darum, was es bedeutet, wenn Sündlosigkeit und Sünde, Opfer und Täter, Licht und Dunkel aufeinandertreffen. Warum sich Gott, Ganzheit und Integrität, Liebe und Gerechtigkeit niemals voneinander trennen lassen. Und warum das für alle Menschen gilt, nicht nur für einen exklusiven Klub einiger weniger, die das Privileg hatten, im richtigen Kulturkreis geboren worden zu sein. Das Ziel ist Frieden und Versöhnung.

Bei Tara geht es darum, alle Teile in uns selbst zurückzuholen: Das, was wir an uns selbst nicht sehen wollen, das Verachtete, das Beschämte, das Fehlerhafte, das Schmutzige. Das, was wir lieber anderen zuschreiben, als es an uns selbst anzuerkennen. Das Schuldbeladene. Das Schmerzhafte. Die Energie, die dabei freigesetzt wird, die Trauer. Sie macht weich und offen. Es tut weh und gut. Das Ziel ist Frieden und Versöhnung.

Mir ist bewusst, dass ich wieder Abschied nehmen muss von Menschen, die mir einmal viel bedeuteten. Vielleicht auch von Argentinien, denn Milei soll im Mai 2025 per Dekret beschlossen haben, dass alle Ausländer, die länger als ein Jahr nicht mehr in Argentinien waren, ihre Aufenthaltsgenehmigung verlieren. Wie streng das durchgesetzt wird und wie das Kleingedruckte lautet, das habe ich noch nicht herausfinden können. Wegen der medizinischen Behandlungen könnte ich aber durchaus nun – wieder einmal – durchs Raster fallen. Fünf Jahre hatte ich jedes Jahr bei der Migrationsbehörde nachgewiesen, dass ich mich selbst versorgen kann und keine Gefahr für die argentinische Gesellschaft bin.

2019 hatte ich meine lebenslange Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Lohnt sich der ganze Aufwand noch einmal? Ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten Monaten die Wohnung abwickeln werden, das Wenige, dass ich dort noch habe, spenden werden und dann diese Etappe auch verabschieden werden.

Ein Ja zur Veränderung, auch wenn sie schmerzt

Tut das weh? Ja, natürlich. Aber vor dem Hintergrund all dessen, was gerade zusammenbricht und neu aufgebaut wird in meinem Leben, ist das schon nebensächlich. Wer weiß, was Gott nun schon wieder vorhat, sagte ich vor einem Jahr. Hätte ich es gewusst, hätte ich mit Sicherheit gekniffen.

Die Trauerbegleiterin Tara Brach sagt: Wir sind Lehrlinge des Kummers. Des Schmerzes der Trennung. Wir wollen da nicht rein. Doch Kontrolle, Abwehr und Verdrängung verlängerten das Leid, ein bewusstes „Ja“ zu allem transformiere es hingegen.

Leid führe uns dazu, dass wir bestimmte Aspekte unserer Persönlichkeit abspalten, sie nicht mehr sehen – und uns selbst damit auch nicht mehr vollständig. Trauer hingegen mache weich, führt das Ungesehene und Ungeliebte zurück ins Licht. Und manchmal, würde ich nach diesem Monat September hinzufügen, braucht es dafür auch ein Feuer, das nicht angenehm ist. Paulus sagt das. C. G. Jung sagt das. Das Leben selbst sagt das auch.

Ich erinnere mich an den Moment, in dem ich Rotz und Blasen heulend im Bad saß und mitten im Weinen auf einmal vor meinem inneren Auge mein ebenfalls inneres kleines Mädchen auftauchte: die, für die ich mich selbst so lange geschämt hatte, weil sie nie so war, wie sie sein sollte. Als sie auf einmal vor mir „saß“, mit ihrem viel zu kurzen Pony und der kratzigen Wollstrumpfhose, da, ja da empfand ich wirklich Schuldgefühle.

Es tut mir so leid, hatte ich zu ihr gesagt. Ich hab dich immer versteckt. Und sie hatte geantwortet: Nicht schlimm. Jetzt bist du ja da. Was machen wir jetzt?

Rosa gekleidete Frauen in einer Fußgängerzone, Lächeln, Umarmung, fröhliche Geste, Sportkleidung. Frauen beim Brustkrebs-Marsch in Amsterdam im September 2025
Auf dem Breastcancer-Awareness-Lauf in Amsterdam

Was bleibt, ist Liebe. Sie wartet hinter der Angst

Ja, für mein kleines Mädchen würde ich auch gegen Gott kämpfen. In diesem September 2025 habe ich es. Bis ich sah, dass beide Hand in Hand gehen. Die ganze Zeit schon.

Am 27. September 2025 feierte ich meinen zweiten Geburtstag.

Am 28. September 2025 traf ich im Marienhospital in Wesel wieder Dr. Ferdosi, Dr. Ak und Dr. Benzane-Frenkel. Ich traf die Frauen, die mir mein Herzkissen genäht hatten. Mir bis dahin unbekannte Gesichter, die ihre unbedingte Liebe zu einer Fremden in ein Herz aus Stoff verwandelt hatten, das mir in den Nächten das Schlafen ermöglichte und mir zeigte, dass da Menschen sind, die wollen, dass ich lebe, während die, von denen ich es nie gedacht hätte, mich in die Hölle wünschten. Ein Stück Frieden, Wärme und Geborgenheit mitten im Dunkel.

„Sie sehen jünger aus“, sagt Dr. Ferdosi zu mir.

„Ja“, antworte ich. „Sie sagten, ich solle ein neues Leben beginnen. Hab ich gemacht.“

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Ein Gedanke zu „Monatsrückblick September 2025: Feuer, Gott und Schuldgefühle – ein Befreiungsschlag im Farbenrausch“

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