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Entstigmatisierung geht alle etwas an
Wenn politische Kommunikation in Krisenzeiten nach einfachen Feindbildern sucht, landen Stigmatisierte schnell im Fadenkreuz. In Deutschland stehen psychisch erkrankte Menschen noch immer ganz oben auf der Liste. Die Notwendigkeit ihrer Entstigmatisierung zeigt sich mit einem Blick in die Vergangenheit: Die Zeit, in der psychisch Kranke und Behinderte Verfolgung und Vernichtung erleiden mussten, ist erst acht Jahrzehnte her.
Es waren gute Jahre, in denen im deutschen medialen Raum nach und nach daran gearbeitet wurde, psychische Erkrankungen aus der existenziell schambehafteten Schmuddelecke zu holen. Allein das war entlastend und wirkte zum Teil schon therapeutisch auf die Betroffenen.
Das erst vor kurzem Erreichte steht heute wieder auf dem Prüfstand.
So werden in diesen Tagen immer häufiger psychisch erkrankte Menschen medial in ein neues – altes – Licht gerückt: als vermeintliches Sicherheitsrisiko, als Kostenfaktor. Altbewährte Vorurteile erleben eine Renaissance.
Was hat die Entstigmatisierung von psychisch Erkrankten mit Demokratie zu tun?
Verunsicherung sucht einen Grund, an dem sie sich festmachen kann. Schnelle Lösungen gegen die kollektiv empfundene Ohnmacht. Das Kontrollbedürfnis steigt. Ein Sündenbock muss her.
Psychisch erkrankte oder behinderte Menschen eignen sich in ihrer Verletzlichkeit als Projektionsfläche. Das bringt sie in Gefahr.
„Verlöre der demokratische Rechtsstaat seine liberalen Bestandteile, wäre das, was wir seit nunmehr gut 75 Jahren unter „Demokratie“ verstehen, Geschichte.“ Sascha Kneip, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Zeitschrift der Bundeszentrale für Politische Bildung, 74. Jahrgang, 27/2024, S. 03
Genau hier entscheidet sich, ob unsere Demokratie nur abstrakt mit schönen Worten verteidigt wird, oder konkret, im Alltag, in Sprache, Medien und Gesetzgebung. Der Weg raus aus Misstrauen, Angst, Polarisierung und populistischen Abwehr-Mustern heißt: Entstigmatisierung.
Warum ist es gerade jetzt so relevant, gegen Stigmatisierung einzutreten?
Kriege, Teuerungen, Vertrauensverluste. So schaffen Krisen ein soziales Klima, in dem es hingenommen wird, wenn gesellschaftliche Fundamente wackeln und sich Grenzen verschieben. Rechtspopulistische Zuschreibungen wandern in die Mitte, werden von etablierten Akteuren übernommen oder taktisch „nachgepfiffen“.
Für psychisch erkrankte Menschen heißt das: Das ohnehin verbreitete Vorurteil, sie seien defizitär oder sogar gefährlich, bekommt Rückenwind: Stammtischparolen werden zu Talkshow-Thesen.
Betroffene spüren die Folgen zuerst: Blicke und Stimmen im Umfeld verändern sich. Debatten bekommen ein Geschmäckle. So bleibt die Bitte um Hilfe im Halse stecken.
Wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Veränderungen mögen Konventionen auf den Prüfstand stellen. Doch wenn wir Ausgrenzung normalisieren, vergeben wir genau das Potential, was eine Gesellschaft, eine Demokratie, resilient macht: Menschlichkeit und Solidarität, Würde und Werte.
Normalisierung ist das Stichwort
Was gestern Tabubruch war, klingt heute pragmatisch und wird morgen zur Gesetzesvorlage.
„Institutionell und kulturell hat eine „Normalisierung“ des Rechtspopulismus stattgefunden. […] [Sie findet dann] statt […], wenn Diskurse es aus der (hier extrem rechten) Peripherie heraus in die Mitte der Gesellschaft schaffen und von etablierten Parteien aufgegriffen und geteilt werden.“ Paula Diebl in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Zeitschrift der Bundeszentrale für Politische Bildung, 74. Jahrgang, 27/2024, S. 26, 31
Genau deshalb gehört Entstigmatisierung auf die Agenda: Für den Schutz von Würde und Recht. Gegen eine Sündenbockpolitik, von der wir wissen, wohin sie führen wird.
Lasst uns dort ansetzen, wo Stigma wirkt: in Wartezimmern, Kommentarspalten, Amtsstuben, Redaktionskonferenzen. Beginnen wir mit der Art, wie über psychische Erkrankungen gesprochen wird. Wer hier fair ist, schützt nicht nur Betroffene; er schützt die demokratische Kultur insgesamt.
Was ist Populismus?
Um Entstigmatisierung wirksam zu betreiben, müssen wir die Mechanik des Populismus verstehen – gerade dort, wo er mit rechtsextremen Gedankengebilden zusammentrifft.
Populismus behauptet, exklusiv für „die richtigen Menschen“ zu sprechen, reduziert komplexe Probleme auf Schuldige und stellt pluralistische Gegensätze als moralische Front dar. So kommt es zur Spaltung der gesellschaftlichen Wahrnehmung: Hier sind die „Anständigen“, dort die „Eliten“, dort die „Abweichenden“.
Rechtspopulistische Kommunikation nutzt Wir-gegen-Sie-Parolen, Tabubrüche, peitscht die Emotionen auf. So werden mit der Zeit die äußeren Bilder zu inneren Überzeugungen.
Ein konkretes Beispiel lieferte der AfD-Politiker Maximilian Krah im Europawahlkampf 2024. Er verhöhnte die Tagesschau in Einfacher Sprache in einem Video als „Nachrichten für Idioten“. Damit rückte Krah Menschen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Beeinträchtigungen ins Schussfeld, stellte verbale Angriffe ihnen gegenüber als salonfähig dar.
Warum wirkt Populismus?
Moderne Medien lieben derartige Erregung: Sie schafft Reichweite. Und das ohnehin schon angespannte Nervensystem dankt für einfache Lösungen angesichts komplexer Probleme:
- Homogenisierung („Die sind so.)
- Dramatisierung („Alle psychisch Kranken sind gefährlich“.)
- Skandalisierung („Mutmaßlich psychisch kranker Mann verletzt 84-Jährige schwer“)
- Dichotomisierung (Wer nicht „normal“ ist, ist „irre“.)
- Dämonisierung („Irgendein Irrer wird auch heute wieder ein Messer einpacken…“)
- Dehumanisierung („Auf beiden Steinen stand: „Euthanasie ist die Lösung“.)
Es sind Schlagzeilen aus dem Jahr 2025, sie erinnern an die Propaganda für einen „gesunden Volkskörper“ im Nationalsozialismus: Ballastexistenzen, Menschenhülsen, geistig Tote, Defektmenschen. Es war der Propaganda-Rahmen für die Normalisierung von Mord.
Wer Menschen mit Krankheitsbildern aus der Gemeinschaft drängt, greift Grundnormen der Menschlichkeit an:
- Gleichheit
- Teilhabe
- Menschenwürde
- Existenzrecht
Es erinnert an die Worte Brechts: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.
Doch warum gebiert er gerade jetzt?
Warum ist Populismus auf dem Vormarsch?
„Normalität“ ist nichts Fixiertes, sondern wird ständig neu konstruiert, korrigiert, revidiert oder auch bestätigt. Paula Diehl in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Zeitschrift der Bundeszentrale für Politische Bildung, 74. Jahrgang, 27/2024, S. 31
Ausschlaggebend ist eine Verschiebung der Normen: Wir erleben sie in dieser Zeit. Wenn rechtspopulistische Vereinfachungen von genau jenen etablierten Medien und politischen Akteuren übernommen werden, die man gedanklich mit einer freiheitlich demokratischen Grundordnung verbindet, wird Ausgrenzung von unserem Gehirn als „normal“ markiert.
„Der Populismus dient als Brücke zwischen rechtsextremen Ideologien, die außerhalb der Demokratie stehen, und der demokratischen Öffentlichkeit.“ Paula Diehl, ebd.
Für psychisch erkrankte Menschen bedeutet das: Einst überwundene Vorurteile bekommen gesellschaftlichen Rückenwind. Das Stigma wird politisch verwertbar. Mit realen Folgen für Versorgung und Teilhabe. Und für ihre Sicherheit. Ihre Entstigmatisierung hat existenzielle Bedeutung.
Schon im Jahr 2023 zeigte sich laut Statista ein deutlicher Anstieg rechtsmotivierter Straftaten. Die Euthanasiephantasien der Steinewerfer auf die Behindertenhilfe zeigen, welche Dimension bereits erreicht wurde.
Der digitale Brandbeschleuniger: Empörung verkauft sich besser.
Im Netz gewinnen Inhalte, die Aufmerksamkeit fesseln. Genau hier greifen Populismus- und Medienlogik ineinander: Weniger Komplexität, mehr Emotion, mehr Drama, weniger Tabu. All dies sind Faktoren, die Aufmerksamkeit wecken. Sie werden leicht geklickt und somit vom Algorithmus belohnt .
Die Konsequenz: Schlagzeilen buhlen angesichts der Masse und Schnelligkeit in den Medien um unser Reptiliengehirn mit Sex, Angst, Neid, Hass.
Die getriggerten niederen Instinkte entladen sich in gesichtslosen Kommentarspalten: Aus verletzlichen Menschen werden Blitzableiter für den Alltagsfrust. Die wiederum ziehen sich zurück, verzichten auf ihre Stimme, ihre Rechte und den gebührenden Respekt vor ihrer Lebensleistung. Doch gerade so werden sie umso mehr zur Leinwand.

Wofür braucht die Gesellschaft Sündenböcke?
In Krisen wird Angst gebündelt, Schuld externalisiert und auf eine einzelne Person oder Gruppen übertragen. Das verschafft kurzfristig Ordnung. Langfristig Schaden. Dennoch ist der Sündenbock ein über Jahrtausende bewährtes Mittel zur Entlastung von Gruppen und Gesellschaften.
Historie des Sündenbock-Narrativs
Im alttestamentlichen Versöhnungstagsritual bekannte die Gemeinschaft ihre Verfehlungen. Sie übergaben sie einem Bock, der zum Sterben in die Wüste geschickt wurde. Die Logik ist symbolisch, aber klar: Schuld wird übertragen, die Gruppe fühlt sich entlastet, das soziale Gefüge ist gereinigt. Ähnlich funktionierte im antiken Griechenland der pharmakos: In Zeiten von Seuche oder Hunger wurde ein marginalisierter Mensch als Träger des Unheils aus der Stadt getrieben.
In beiden Fällen steht am Anfang eine Krise, dann folgt deren Personalisierung („es liegt an diesem Einen“), dann Ausschluss des so Markierten. Das Grundmuster ist geboren.
Mit Pest, Missernten, Kriegen wuchs der Bedarf an einfachen Erklärungen. Minderheiten – Jüdinnen und Juden, als „Hexen“ Beschuldigte, „Aussätzige“, „Zigeuner“ – wurden zu Trägern kollektiver Ängste erklärt.
Mit dem Aufstieg moderner Staaten verschob sich der Fokus von religiöser „Schuld“ zu biopolitischer Nützlichkeit. Gesellschaft wurde als „Körper“ gedacht, Abweichung als „Krankheit“. Menschen erhielten vermeintlichen Wert für die „Gesundheit“ des Ganzen.
Im Nationalsozialismus kulminiert das Muster: ganze Menschengruppen wie Jüdinnen und Juden, Homosexuelle und sehr früh auch psychisch kranke und behinderte Menschen wurden als „lebensunwert“ etikettiert. Die so zu Problemen reduzierten Menschen wurden schließlich im Rahmen ihrer industriellen Tötung „gelöst“. Es ist die fast logische Folge der Sündenbock-Dynamik in einem totalitären Machtsystem.
Entstigmatisierung rettet Leben.
Die Psychologie dahinter: Warum es sich so „gut“ anfühlt
Der Sündenbock reguliert Affekte. Angst, Ohnmacht, Wut erhalten eine Adresse. Das Gehirn liebt einfache Zusammenhänge und rasche „Lösungen“. Ausgrenzung liefert beides:
- Komplexitätsreduktion: Aus Vielerlei wird scheinbare Klarheit: „Die sind schuld!“
- Kohäsion: Ein „Wir“ entsteht gegen „die Anderen“. Vor allem Menschen, Gesellschaften oder Gruppen, die die Welt vereinfachend in schwarz und weiß aufteilen müssen, um sie emotional zu bewältigen, gibt dieser Mechanismus das ersehnte Gefühl von Macht und Sicherheit.
- Kontrollillusion: Strafe, Vertreibung oder Überwachung simuliert Handlungsfähigkeit angesichts überwältigender Bedrohungen. Das entlastet die Psyche, wenn auch nur zeitweilig.
Warum psychisch erkrankte Menschen besonders gefährdet sind
In polarisierten Zeiten greifen alte Bilder: „gefährlich“, „unberechenbar“, „Kostenfaktor“. Mediale Skandalisierung eines Einzelfalls kippt schnell in Generalisierung („die psychisch Kranken“), daraus folgt die Kontrollforderung (Register, Raster, Datentausch, erweiterter Zwang). Genau hier zeigt sich der moderne Sündenbock-Mechanismus in Reinform:
- Auswahl: eine verletzliche, ohnehin stigmatisierte Gruppe.
- Etikettierung: pathologisierende, entmenschlichende Sprache.
- Politische Verwertung: „harte Kante“ als Symbolhandeln.
In dieser Logik werden psychisch erkrankte Menschen nach spektakulären Einzelfällen nicht mehr als Individuen gesehen, sondern als Sicherheitsrisiko.
Nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt (20. Dezember 2024) setzte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in einem Deutschlandfunk-Interview einen sicherheitspolitischen Ton, der psychisch erkrankte Menschen pauschal in den Fokus rückte. Wörtlich sagte er: „es reiche nicht aus, Register anzulegen für Rechtsextremisten und Islamisten, sondern in Zukunft sollte das auch für psychisch Kranke gelten.“
Aus der Fachwelt kam scharfe Kritik. Auch die Deutsche DepressionsLiga widersprach:
„… mit Ihrer Forderung scheren Sie alle psychisch Kranken (die im Übrigen nicht freiwillig krank geworden sind) über einen Kamm und vorverurteilen sie. Das ist grober Unfug. Psychisch krank zu sein bedeutet nicht, per se anderen Menschen schaden zu wollen oder straffällig zu werden… Mit Ihrem Vorschlag… stigmatisieren und vorverurteilen Sie jeden Menschen, der von psychischer Krankheit betroffen ist – welcher Ausprägung auch immer. Das geht so nicht! Wohin soll das führen?“
Das ZDF stellte klar: Ein psychisch kranker Mensch hat eine medizinische Diagnose. Ein Gewalttäter ist ein Mensch, der eine Straftat begangen hat.
Manchmal – und dann immer tragisch – kommt wie bei dem Täter in Magdeburg beides zusammen.
Das Tabu ist gebrochen
Doch auch wenn der Vorstoß zunächst gestoppt ist: Das Tabu ist gebrochen. die Denkbarriere zwischen medizinischer Diagnose und Sicherheitsverdacht ist eingerissen.

Genau diese Denkbewegung stand historisch am Anfang der NS-„Euthanasie“-Politik: Mit dem Runderlass vom 18. August 1939 begann die systematische Erfassung und Aussonderung von Kindern mit „schweren, angeborenen Leiden“; kurz darauf folgte die „Aktion T4“ gegen erwachsene Patienten und Patientinnen. Am Ende wurden Hunderttausende kranke und behinderte Menschen ermordet.
Unter dem Dauerrauschen populistischer Erzählungen verliert sich das Mitgefühl, und Solidarität wird zur knappen Ressource, die nur noch den vermeintlich „Unbedenklichen“ Normkonformen gilt. Was bleibt, ist ein Klima des Misstrauens. Der bildet den idealen Nährboden für die nächste Runde Sündenbockpolitik. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden.
So brachte die CSU in Bayern nach der Tat von Aschaffenburg umgehend Gesetzesverschärfungen ins Spiel: Klaus Holetschek, CSU-Fraktionschef im Landtag, forderte etwa, psychisch kranke Personen leichter gegen ihren Willen unterbringen und behandeln zu können; außerdem brauche es einen vereinfachten Datenaustausch der Psychiatrien mit den Sicherheitsbehörden. Selbst Minderjährige in akuter seelischer Krise sollten notfalls ohne Zustimmung der Eltern in Kliniken eingewiesen werden dürfen.
Wenn wir nicht aufpassen wird das, was gestern undenkbar war, bald zu einem „man wird ja wohl fragen dürfen“, dann zu einer scheinbar naheliegenden Option. Die Idee wird sprachlich normal, politisch anschlussfähig und schließlich in Prüfaufträge, Pilotprojekte und Gesetzentwürfe übersetzt. Am Ende steht eine praxis- und rechtsförmige Realität.
Menschenwürde auf dem Prüfstand
Die Zunahme psychischer Belastungen sind eine gesellschaftliche Realität in Deutschland. Eine repräsentative Langzeitstudie zeigt: Der Anteil der Erwachsenen mit depressive Symptomen stieg von 7,5 % (2020) auf 14,8 % (2023). Es handelt sich nur um Erwachsene mit depressiven Symptomen. Die Bandbreite psychischer Erkrankungen reicht weitaus weiter. Das macht deutlich, dass Stigmatisierung nicht nur fehl am Platz ist, sondern kontraproduktiv.
Nur Entstigmatisierung sichert Handlungsfähigkeit
Für die Betroffenen erzeugt die aktuelle Entwicklung ein belastendes Klima. Viele psychisch erkrankte Menschen fühlen sich durch die Debatten an den Pranger gestellt. Sie befürchten, im öffentlichen Auge pauschal als gefährlich zu gelten. Tatsächlich wurde in der NS-Zeit der Begriff „Gefährder“ für psychisch Kranke missbraucht, um die Verfolgungsmaßahmen, T4 und Euthanasiemorde ideologisch vorzubereiten.
Doch ein Sprecher des Bayerischen Sozialministeriums stellte klar: „Psychisch kranke Menschen sind nicht gefährlicher und neigen nicht mehr zu Gewalt als andere“ – im Gegenteil, statistisch ist ihr Risiko deutlich höher, Opfer von Gewalt zu werden
Die Bereitschaft, Hilfe in Anspruch zu nehmen, wird nachvollziehbarerweise beeinträchtigt. Doch gerade ist ist es, was im schlimmsten Fall genau jene Extremfälle begünstigt, die man zu bekämpfen vorgibt.
Wege aus dem Teufelskreis
Wer psychische Erkrankung als Sicherheitsrisiko rahmt, erschwert also genau das, was die Lage stabilisieren könnte: frühe Hilfesuche, offene Kommunikation, niederschwelligen Zugang zu Versorgung. Statt präventiver Wirkung erzeugt Stigma Rückzug, Verschleppung und damit oft schwerere Verläufe – mit höheren persönlichen und gesellschaftlichen Folgekosten. In einer Situation steigender Prävalenz braucht es daher evidenzbasierte Maßnahmen und Versorgungsausbau, nicht Sündenbockpolitik. Entstigmatisierung ist die Basis für alles Folgende.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. stellt eindeutig fest: „Die beste Maßnahme, um Gewalttaten durch Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verhindern, ist deren konsequente Behandlung.“
Demokratie muss nicht alles aushalten
- Psychische Erkrankung dient als politische Projektionsfläche, um gesellschaftliche Verunsicherung auszunutzen.
- Rechtspopulistische Akteure in Deutschland schüren Vorurteile gegenüber psychisch kranken Menschen und Menschen mit Behinderungen, um politisches Kapital daraus zu schlagen.
- Begriffe wie „Gefährder-Register“ sind daher kein Zufall.
- Mit diesen oder anderen polemischen Ausfälle gegen Inklusion sollen Sündenböcke geschaffen werden.
- Eine Illusion von Kontrolle und Zusammenhalt auf Kosten der Würde einer verletzlichen Menschengruppe.
Umso wichtiger sind die Stimmen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und seriösen Medien, die diesen Tendenzen fundiert entgegentreten. Entstigmatisierung verteidigt eine demokratische, humane Gesellschaft, in der niemand aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung beschämt, beleidigt, ausgegrenzt oder in Gefahr gebracht wird.
Entstigmatisierung als Bekenntnis zur Demokratie
Das Eintreten gegen Stigmatisierung ist weit mehr als ein Akt der Solidarität mit einer einzelnen Gruppe. Es ist Ausdruck von Demokratiebewusstsein: die bewusste Entscheidung, Grundrechte, Vielfalt und gegenseitige Achtung nicht dem schnellen Beifall populistischer Erzählungen zu opfern.
Sündenbockdynamiken schaffen kurzfristig das Gefühl von Kontrolle, lösen aber kein einziges der zugrunde liegenden Probleme.
Wer heute psychisch erkrankte Menschen stigmatisiert, wird morgen andere Gruppen finden, um die Unzufriedenheit zu kanalisieren. Und jedes Mal schrumpft der Kreis derer, die noch selbstverständlich dazugehören.
„Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten,
gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Martin Niemöller 1945
Liebe Francis,
wow, was für ein wichtiger und aufrüttelnder Artikel.
Danke – das ist wirklich ein super wichtiges Thema, das mehr Aufmerksamkeit in unserer Gesellschaft verdient.
Viele Grüße
Danielle