Oryxbock-Herde in Abudhabi als Metapher für den Zusammenhalt der ehemaligen Sündenböcke im Kampf um Entstigmatisierung psychischer Krankheiten

Geschätzte Lesezeit: 10 Minuten.

Entstigmatisierung geht alle etwas an

Wenn politische Kommunikation in Krisenzeiten nach einfachen Feindbildern sucht, landen Stigmatisierte schnell im Fadenkreuz. In Deutschland stehen psychisch erkrankte Menschen noch immer ganz oben auf der Liste. Die Notwendigkeit ihrer Entstigmatisierung zeigt sich mit einem Blick in die Vergangenheit: Die Zeit, in der psychisch Kranke und Behinderte Verfolgung und Vernichtung erleiden mussten, ist erst acht Jahrzehnte her.  

Es waren gute Jahre, in denen im deutschen medialen Raum nach und nach daran gearbeitet wurde, psychische Erkrankungen aus der existenziell schambehafteten Schmuddelecke zu holen. Allein das war entlastend und wirkte zum Teil schon therapeutisch auf die Betroffenen.

Das erst vor kurzem Erreichte steht heute wieder auf dem Prüfstand.

Was hat die Entstigmatisierung von psychisch Erkrankten mit Demokratie zu tun?

Verunsicherung sucht einen Grund, an dem sie sich festmachen kann. Schnelle Lösungen gegen die kollektiv empfundene Ohnmacht. Das Kontrollbedürfnis steigt. Ein Sündenbock muss her.

Genau hier entscheidet sich, ob unsere Demokratie nur abstrakt mit schönen Worten verteidigt wird, oder konkret, im Alltag, in Sprache, Medien und Gesetzgebung. Der Weg raus aus Misstrauen, Angst, Polarisierung und populistischen Abwehr-Mustern heißt: Entstigmatisierung.

Warum ist es gerade jetzt so relevant, gegen Stigmatisierung einzutreten?

Kriege, Teuerungen, Vertrauensverluste. So schaffen Krisen ein soziales Klima, in dem es hingenommen wird, wenn gesellschaftliche Fundamente wackeln und sich Grenzen verschieben. Rechtspopulistische Zuschreibungen wandern in die Mitte, werden von etablierten Akteuren übernommen oder taktisch „nachgepfiffen“.

Betroffene spüren die Folgen zuerst: Blicke und Stimmen im Umfeld verändern sich. Debatten bekommen ein Geschmäckle. So bleibt die Bitte um Hilfe im Halse stecken.

Normalisierung ist das Stichwort

Was gestern Tabubruch war, klingt heute pragmatisch und wird morgen zur Gesetzesvorlage.

Lasst uns dort ansetzen, wo Stigma wirkt: in Wartezimmern, Kommentarspalten, Amtsstuben, Redaktionskonferenzen. Beginnen wir mit der Art, wie über psychische Erkrankungen gesprochen wird. Wer hier fair ist, schützt nicht nur Betroffene; er schützt die demokratische Kultur insgesamt.

Was ist Populismus?

Um Entstigmatisierung wirksam zu betreiben, müssen wir die Mechanik des Populismus verstehen – gerade dort, wo er mit rechtsextremen Gedankengebilden zusammentrifft.

Rechtspopulistische Kommunikation nutzt Wir-gegen-Sie-Parolen, Tabubrüche, peitscht die Emotionen auf. So werden mit der Zeit die äußeren Bilder zu inneren Überzeugungen.

Warum wirkt Populismus?

Moderne Medien lieben derartige Erregung: Sie schafft Reichweite. Und das ohnehin schon angespannte Nervensystem dankt für einfache Lösungen angesichts komplexer Probleme:

Es sind Schlagzeilen aus dem Jahr 2025, sie erinnern an die Propaganda für einen „gesunden Volkskörper“ im Nationalsozialismus: Ballastexistenzen, Menschenhülsen, geistig Tote, Defektmenschen. Es war der Propaganda-Rahmen für die Normalisierung von Mord.

Wer Menschen mit Krankheitsbildern aus der Gemeinschaft drängt, greift Grundnormen der Menschlichkeit an:

Es erinnert an die Worte Brechts: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

Doch warum gebiert er gerade jetzt?

Warum ist Populismus auf dem Vormarsch?

Ausschlaggebend ist eine Verschiebung der Normen: Wir erleben sie in dieser Zeit. Wenn rechtspopulistische Vereinfachungen von genau jenen etablierten Medien und politischen Akteuren übernommen werden, die man gedanklich mit einer freiheitlich demokratischen Grundordnung verbindet, wird Ausgrenzung von unserem Gehirn als „normal“ markiert.

Schon im Jahr 2023 zeigte sich laut Statista ein deutlicher Anstieg rechtsmotivierter Straftaten. Die Euthanasiephantasien der Steinewerfer auf die Behindertenhilfe zeigen, welche Dimension bereits erreicht wurde.

Der digitale Brandbeschleuniger: Empörung verkauft sich besser.

Im Netz gewinnen Inhalte, die Aufmerksamkeit fesseln. Genau hier greifen Populismus- und Medienlogik ineinander: Weniger Komplexität, mehr Emotion, mehr Drama, weniger Tabu. All dies sind Faktoren, die Aufmerksamkeit wecken. Sie werden leicht geklickt und somit vom Algorithmus belohnt .

Die Konsequenz: Schlagzeilen buhlen angesichts der Masse und Schnelligkeit in den Medien um unser Reptiliengehirn mit Sex, Angst, Neid, Hass.

Männliches Schaf in einer Hochwüste als Metapher für soziale Sündenböcke

Wofür braucht die Gesellschaft Sündenböcke?

In Krisen wird Angst gebündelt, Schuld externalisiert und auf eine einzelne Person oder Gruppen übertragen. Das verschafft kurzfristig Ordnung. Langfristig Schaden. Dennoch ist der Sündenbock ein über Jahrtausende bewährtes Mittel zur Entlastung von Gruppen und Gesellschaften.

Historie des Sündenbock-Narrativs

Im alttestamentlichen Versöhnungstagsritual bekannte die Gemeinschaft ihre Verfehlungen. Sie übergaben sie einem Bock, der zum Sterben in die Wüste geschickt wurde. Die Logik ist symbolisch, aber klar: Schuld wird übertragen, die Gruppe fühlt sich entlastet, das soziale Gefüge ist gereinigt. Ähnlich funktionierte im antiken Griechenland der pharmakos: In Zeiten von Seuche oder Hunger wurde ein marginalisierter Mensch als Träger des Unheils aus der Stadt getrieben.

Mit Pest, Missernten, Kriegen wuchs der Bedarf an einfachen Erklärungen. Minderheiten – Jüdinnen und Juden, als „Hexen“ Beschuldigte, „Aussätzige“, „Zigeuner“ – wurden zu Trägern kollektiver Ängste erklärt.

Mit dem Aufstieg moderner Staaten verschob sich der Fokus von religiöser „Schuld“ zu biopolitischer Nützlichkeit. Gesellschaft wurde als „Körper“ gedacht, Abweichung als „Krankheit“. Menschen erhielten vermeintlichen Wert für die „Gesundheit“ des Ganzen.

Im Nationalsozialismus kulminiert das Muster: ganze Menschengruppen wie Jüdinnen und Juden, Homosexuelle und sehr früh auch psychisch kranke und behinderte Menschen wurden als „lebensunwert“ etikettiert. Die so zu Problemen reduzierten Menschen wurden schließlich im Rahmen ihrer industriellen Tötung „gelöst“. Es ist die fast logische Folge der Sündenbock-Dynamik in einem totalitären Machtsystem.

Entstigmatisierung rettet Leben.

Die Psychologie dahinter: Warum es sich so „gut“ anfühlt

Der Sündenbock reguliert Affekte. Angst, Ohnmacht, Wut erhalten eine Adresse. Das Gehirn liebt einfache Zusammenhänge und rasche „Lösungen“. Ausgrenzung liefert beides:

  • Komplexitätsreduktion: Aus Vielerlei wird scheinbare Klarheit: „Die sind schuld!“
  • Kohäsion: Ein „Wir“ entsteht gegen „die Anderen“. Vor allem Menschen, Gesellschaften oder Gruppen, die die Welt vereinfachend in schwarz und weiß aufteilen müssen, um sie emotional zu bewältigen, gibt dieser Mechanismus das ersehnte Gefühl von Macht und Sicherheit.
  • Kontrollillusion: Strafe, Vertreibung oder Überwachung simuliert Handlungsfähigkeit angesichts überwältigender Bedrohungen. Das entlastet die Psyche, wenn auch nur zeitweilig.

Warum psychisch erkrankte Menschen besonders gefährdet sind

In polarisierten Zeiten greifen alte Bilder: „gefährlich“, „unberechenbar“, „Kostenfaktor“. Mediale Skandalisierung eines Einzelfalls kippt schnell in Generalisierung („die psychisch Kranken“), daraus folgt die Kontrollforderung (Register, Raster, Datentausch, erweiterter Zwang). Genau hier zeigt sich der moderne Sündenbock-Mechanismus in Reinform:

  • Auswahl: eine verletzliche, ohnehin stigmatisierte Gruppe.
  • Etikettierung: pathologisierende, entmenschlichende Sprache.
  • Politische Verwertung: „harte Kante“ als Symbolhandeln.

In dieser Logik werden psychisch erkrankte Menschen nach spektakulären Einzelfällen nicht mehr als Individuen gesehen, sondern als Sicherheitsrisiko.

Aus der Fachwelt kam scharfe Kritik. Auch die Deutsche DepressionsLiga widersprach:

Manchmal – und dann immer tragisch – kommt wie bei dem Täter in Magdeburg beides zusammen.

Das Tabu ist gebrochen

Leopard jagt Wildziegen. Als Metapher für die Gefahr, in der sich stigmatisierte Menschen befinden nach dem Tabubruch und zur Verdeutlichung, wie es ihnen geht wenn keine Entstigmatisierung stattfindet

Unter dem Dauerrauschen populistischer Erzählungen verliert sich das Mitgefühl, und Solidarität wird zur knappen Ressource, die nur noch den vermeintlich „Unbedenklichen“ Normkonformen gilt. Was bleibt, ist ein Klima des Misstrauens. Der bildet den idealen Nährboden für die nächste Runde Sündenbockpolitik. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden.

Menschenwürde auf dem Prüfstand

Die Zunahme psychischer Belastungen sind eine gesellschaftliche Realität in Deutschland.  Eine repräsentative Langzeitstudie zeigt: Der Anteil der Erwachsenen mit depressive Symptomen stieg von 7,5 % (2020) auf 14,8 % (2023). Es handelt sich nur um Erwachsene mit depressiven Symptomen. Die Bandbreite psychischer Erkrankungen reicht weitaus weiter. Das macht deutlich, dass Stigmatisierung nicht nur fehl am Platz ist, sondern kontraproduktiv.

Nur Entstigmatisierung sichert Handlungsfähigkeit

Die Bereitschaft, Hilfe in Anspruch zu nehmen, wird nachvollziehbarerweise beeinträchtigt. Doch gerade ist ist es, was im schlimmsten Fall genau jene Extremfälle begünstigt, die man zu bekämpfen vorgibt.

Wege aus dem Teufelskreis

Wer psychische Erkrankung als Sicherheitsrisiko rahmt, erschwert also genau das, was die Lage stabilisieren könnte: frühe Hilfesuche, offene Kommunikation, niederschwelligen Zugang zu Versorgung. Statt präventiver Wirkung erzeugt Stigma Rückzug, Verschleppung und damit oft schwerere Verläufe – mit höheren persönlichen und gesellschaftlichen Folgekosten. In einer Situation steigender Prävalenz braucht es daher evidenzbasierte Maßnahmen und Versorgungsausbau, nicht Sündenbockpolitik. Entstigmatisierung ist die Basis für alles Folgende.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. stellt eindeutig fest: „Die beste Maßnahme, um Gewalttaten durch Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verhindern, ist deren konsequente Behandlung.“

Demokratie muss nicht alles aushalten

Umso wichtiger sind die Stimmen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und seriösen Medien, die diesen Tendenzen fundiert entgegentreten. Entstigmatisierung verteidigt eine demokratische, humane Gesellschaft, in der niemand aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung beschämt, beleidigt, ausgegrenzt oder in Gefahr gebracht wird.

Entstigmatisierung als Bekenntnis zur Demokratie

Das Eintreten gegen Stigmatisierung ist weit mehr als ein Akt der Solidarität mit einer einzelnen Gruppe. Es ist Ausdruck von Demokratiebewusstsein: die bewusste Entscheidung, Grundrechte, Vielfalt und gegenseitige Achtung nicht dem schnellen Beifall populistischer Erzählungen zu opfern.

Sündenbockdynamiken schaffen kurzfristig das Gefühl von Kontrolle, lösen aber kein einziges der zugrunde liegenden Probleme.

„Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten,
gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Martin Niemöller 1945

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Ein Gedanke zu „Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ist Demokratieschutz“
  1. Liebe Francis,
    wow, was für ein wichtiger und aufrüttelnder Artikel.
    Danke – das ist wirklich ein super wichtiges Thema, das mehr Aufmerksamkeit in unserer Gesellschaft verdient.
    Viele Grüße
    Danielle

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